Der Zwang ist vorbei

Was Aufhören können bedeutet, darüber hat Heidemarie Charlotte H. nachgedacht und lässt uns an einer ganz persönlichen Erfahrung teilhaben.

Aufhören ... ein kleines Wort mit einer ungeheuren Bedeutung! Aufhören heißt, dass etwas endet, dass wir etwas beenden wollen oder müssen. Und das hat große Tragweite!
Aufhören mit was? Mit dem Rauchen, mit dem Berufsleben, mit einer Ehe, einer Freundschaft, mit Hoffnung, mit dem Leben?
Aufhören, sich mit anderen zu vergleichen, mit Neid, mit einer Überforderung sich selbst gegenüber und auch anderen, aufhören zu viel zu wollen und dabei zu übersehen, was bereits gegeben ist. Aufhören zu früh zu sagen: "Das kann ich nicht." Aufhören, in alten Wunden die Entschuldigung für heutiges Verhalten zu suchen – auch aufhören, zu streng mit sich zu sein und sich nicht verzeihen zu können.
Es gibt so vieles, mit dem wir aufhören können, um es als Befreiung zu empfinden.
Eine eigene Erfahrung dazu fiel mir spontan ein, dazu muss ich weit zurückgehen in meine Mädchenzeit.
Diese war geprägt durch die Schwierigkeit des Erwachsenwerdens und der, kein Kind mehr zu sein, aber eben auch noch keine Frau. Und das Selbstbewusstsein suchte verunsichert nach Halt. Wie viele junge Mädchen in diesem Alter fand ich es in Lippenstift, Mascara und Make-up.
"Viel zu viel", jammerte meine Mutter, die sich nie schminkte und offensichtlich völlig in Unkenntnis meiner seelischen Nöte war.
Also tuschte ich meine Wimpern so schwarz wie möglich, meine gesunde Gesichtsfarbe wurde durch sehr helles Make-up zu einem kränklichen Teint und ein grässlich nach Himbeeren schmeckender Lippenstift rundete meine Maskerade ab. Sie war lange sehr wichtig für mich und mein mangelndes Selbstbewusstsein. Es wurde zum Zwang.
Dann eines Tages, ich stand mal wieder vor dem Spiegel, um meine Maske anzulegen, war die Wimperntusche so klumpig, dass ich mir die Augen wieder abschminken musste. Inzwischen kam ich in Zeitnot, denn ich war immer sehr pünktlich, und so ging ich denn nur mit ein wenig Puder und ein wenig Lippenstift aus dem Haus … sehr unglücklich. 
Und siehe da: Die Welt brach nicht zusammen, keiner drehte sich um und machte sich über mich lustig. Ich war sooo erleichtert, und als ein Kollege mir dann noch sagte: "Du siehst aber hübsch aus ohne Deine Kohleaugen", da war das wie eine Erlösung. Der Zwang hörte auf. 
Ich freundete mich mit meinem Gesicht an. Ich schminke mich immer noch gerne, aber ich muss es nicht mehr. Jetzt ist es ein Spiel. Der Zwang ist vorbei, ich kann aufhören, wenn ich es will.     

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