Der Fremde in der Bibel

Diakon Dr. Schröder über die Einstellung Fremden gegenüber im Alten und Neuen Testament. 

Das Volk Israel tat sich offenbar mit Fremden nicht leicht. Der alttestamentliche Prophet Jesaja klagt: "Ja, du hast dein Volk, das Haus Jakob, verstoßen; denn es ist ... überflutet von Ausländern (Fremden)."

Das Alte Testament unterscheidet zwischen Fremden und Ausländern. Das vorgeschriebene Verhalten ihnen gegenüber weist deutliche Unterschiede auf.

Fremde waren für die Israeliten Menschen ihres Volkes, die nur fremd am Ort ihres Aufenthaltes waren.
Nach der Besetzung des Nordreiches Israel durch die Assyrer (722 vor Chr.) flohen viele Bewohner in das Südreich Juda. Um diese Menschen zu bezeichnen und von anderen abzuheben, wurde nur für sie der Begriff "Fremde" als ganz neues Wort geschaffen.

Da es sich um Mitglieder des eigenen Volkes handelte, wurde die Verpflichtung gesehen, sie, die in der Regel ohne Habe angekommen waren, menschenwürdig zu behandeln und in Juda zu integrieren. Regelungen wie "Einen Fremden sollst du nicht ausnützen oder ausbeuten" (Buch Exodus, Kapitel 22, Vers 20) oder "Du sollst den Lohn eines Notleidenden und Armen unter deinen Brüdern oder unter den Fremden, die in deinem Land innerhalb deiner Stadtbereiche wohnen, nicht zurückhalten" (Buch Deuteronomium, Kapitel 24, Vers 14) galten nur für die geflohenen oder vertriebenen Glaubensbrüder aus dem Nordreich. Sie sollten nicht zu Bettlern entwürdigt werden.

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Fremde, die keine Israeliten waren und aus einem anderen Land kamen, wurden hingegen als Ausländer bezeichnet. Sie konnten im Gegensatz zu den Fremden nicht der menschlichen Solidarität gewiss sein. Man gewährte ihnen zwar eine kurze Gastfreundschaft, aber der Ausländer blieb darum Fremder, weil er den Gott Israels nicht verehrte. Nur der Glaube an Jahwe konnte die Fremdheit überwinden.

In der Sprache des Neuen Testamentes werden der Fremde und der Gast mit dem gleichen Wort bezeichnet. Potentielle Gastgeber mussten in der antiken Welt regelrecht davon überzeugt werden, Gastfreundschaft zu gewähren. Dies konnte durch ein Empfehlungsschreiben geschehen, durch die Zugehörigkeit zur gleichen philosophischen Schule oder aber die gleiche religiöse Ausrichtung. Für die ersten Christen überwand ausschließlich der gemeinsame Glaube an Jesus von Nazareth die Fremdheit.

Unbestritten – nach neuen bibelwissenschaftlichen Erkenntnissen – ist heute, dass mit den "geringsten Brüdern" im Matthäus-Evangelium (Kapitel 25, Vers 40) nicht alle notleidenden Menschen, sondern ausschließlich notleidende Gemeindemitglieder gemeint waren.

Gastrecht, tätige Hilfe und Integration ausschließlich für die Menschen, mit denen man die religiöse Überzeugung teilt – ist das die Antwort der Bibel?

Jesus hat uns zugesagt, dass der Heilige Geist uns immer tiefer in die Wahrheit einführen wird, und so wird auch hier das Wortes Gottes weiter entfaltet: Im Lauf der Zeit hat sich die Bedeutung der "geringsten Brüder" ausgeweitet auf alle Menschen in Not. Nicht der gemeinsame Glaube überwindet heute die Fremdheit, sondern die Überzeugung, dass alle Menschen Kinder unseres Gottes sind. Diese Ausweitung spiegelt zudem die grenzenlose Menschenfreundlichkeit unseres Gottes wider, lässt sie sichtbar werden für alle Menschen guten Willens.

Barthel Schröder