Johannes Krautkrämer (Pfarrer i.R.) mit sehr persönlichen Gedanken zu "fremd" und "Fremde"
In was für einer Welt sind die heute Sechzig- und Siebzigjährigen aufgewachsen?
Köln war in den 50er Jahren eine (fast) geschlossene katholische Welt. Alles war katholisch, Schule, Nachbarn, Traditionen, Küchenzettel … alles bis auf einen evangelischen Nachbarn. Und der war das Ziel unserer kindlichen Neugierde: Was ist an dem anders? Da muss doch was Fremdes zu finden sein. Aber wir fanden nichts. Wie kam es, dass wir diese Fragen stellten?
Dieser Tage fragte mich jemand: "Wo sind denn eigentlich die Flüchtlinge? Man sieht sie nirgends." Doch, man sieht sie, aber sie teilen das Schicksal des evangelischen Nachbarn, sie sehen aus wie du und ich.
Die geschlossene katholische Welt gibt es nicht mehr, manche bedauern das, andere freuen sich an der offenen Gesellschaft, in der wir leben dürfen, freuen sich an der Freiheit, die sie schenkt. Denn die Geschlossenheit war mit vielen Zwängen verbunden. Der frisch verliebten jungen Frau fiel ein Stein vom Herzen, als sie beim ersten Besuch der künftigen Schwiegereltern die "richtigen" Gebetbücher auf der Garderobe liegen sah. Das Gegenteil hätte eine kleine Katastrophe herbeiführen können.
Und wie war es mit der deutschen Küche in den fünfziger Jahren? Nicht weit her bis miserabel!! Und heute? Da hat sich viel geändert. Und woher kommt das, wenn nicht aus der Fremde? Die Fremde befreit und öffnet das Denken und erweitert auch die Küchenzettel ganz erheblich.
Fremd oder befremdlich ist mir immer noch das Gebet der Muslime. Bei einem Besuch in meiner Wohnung: Gemeinsames Essen und dann die Frage: Dürfen wir beten? Frage nach den Himmelsrichtungen, wo könnte Mekka liegen. Und dann beten sie auf dem großen Teppich. Danach geht das Gespräch am Tisch weiter. Und einer der syrischen Flüchtlinge erzählt von seiner Mutter: "Junge, du musst fünfmal am Tag beten." Ähnliche Worte sprechen auch katholische Mütter schon mal, und die Fremdheit schwindet.
Ich gehe mit einer kleinen Gruppe junger Leute, die sich für Flüchtlinge engagieren, durch die Ausgrabungen unter St. Severin. In der Gruppe eine junge Ärztin, eine Muslima, also eine "Fremde". Sie sieht Dinge, die mir noch nie aufgefallen sind. Sie stellt Fragen, die mich erst mal ins Stottern bringen. Das Fremd-Sein macht aufmerksam, weckt Neugierde. Und das Vertraute und Bekannte ist oft nur scheinbar vertraut. Die Fragen des Fremden machen mich fragend und offen und lassen mir das Vertraute fremd werden.
Wer ist wem in der Südstadt fremd? Da sind die Schüler, die morgens von der Bahn zum Berufskolleg strömen, da ist die kleine, kölsche Herrenrunde, die tagtäglich vor der Bäckerei tagt, da sind zwei alten Frauen – aufgestützt auf ihre Gehhilfen – die in reinstem Kölsch parlieren, oder die zugereisten Medienschaffenden aus Paderborn oder Soest oder sonst wo aus der Ferne … sie alle sind einander fremd und werden es auch bleiben.
Und die Kirchengemeinde, ist die "ein Herz und eine Seele" voller Nähe und Vertrautheit? Nein, da sind auch viele Christen einander fremd – und auch das hat sein Gutes und wird so bleiben. Das schafft Bewegung, Diskussion und Dynamik.
Bei all den Erfahrungen und Erlebnissen und auch bei allem Spaß muss am Ende aber doch gesagt werden: Es gibt eine Fremdheit, die bleibt, die ich nicht erklären, nicht aufheben kann – ich bin mir selbst der Fremde, der Unerklärbare.
♦
Johannes Krautkrämer