Was lässt die Menschen "fremdeln"?
v. Haugwitz: Fremd ist für viele, in einem Container gemeinsam mit anderen fremden Menschen zu leben. Da gibt es anfangs oft eine große Frustration, entstanden durch Vorstellungen und Wünsche, mit denen die Menschen hierhergekommen sind, oft aus einem ganz bürgerlichen Umfeld. Es ist aber erstaunlich, wie schnell es den meisten gelingt, sich damit zurechtzufinden.
Secheneva: Die Menschen wissen meistens nicht, was sie erwartet. Viele haben Angst, weil sie aus Gesellschaften stammen, wo viele Dinge anders funktionieren. Auch so einfache alltägliche Tätigkeiten wie Einkaufen, Bahn fahren oder zum Arzt gehen erscheinen zuerst als unüberwindbare Hürden. Die neuen Regeln und Normen und die neue Sprache stellen die Menschen vor große Herausforderungen. Man erwartet, dass sich Flüchtlinge so schnell wie möglich integrieren. Die Asylsuchenden bekommen das natürlich auch mit. Und es übt einen enormen Druck auf sie aus. Viele haben traumatische Erfahrungen gemacht. Einige haben Heimweh, manche mussten ihre Familien im Herkunftsland lassen. Die asylrechtlichen Bestimmungen, wie Arbeitsverbot, kein Zugang zu Sprachkursen, überwiegend zentrale Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften hindern die Menschen daran, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. All das macht zumindest am Anfang etwas misstrauisch.
Haben die Fremdheitserfahrungen auch eine positive Seite?
v. Haugwitz: Die Menschen haben beachtliche Ressourcen, sie stellen sich der Situation und setzen sich mit ihrer Lage auseinander. Schwer depressive oder gewalttätige Menschen, das sind absolute Ausnahmen. In der Notaufnahme warten die Leute ja auf ihre weitere Zukunft und werden nicht bei uns bleiben, deshalb will man sie nicht dauerhaft beheimaten. Nicht selten müssen sie aber mehrere Monate hier sein, mit dieser Unwägbarkeit müssen wir arbeiten. Die Fremdheit kann leichter überwunden werden, wenn die Menschen eine ethnische oder kulturelle Gruppe vorfinden, der sie sich zugehörig fühlen. Das zu ermöglichen liegt natürlich nicht in unserer Hand. Da war einmal ein Mann aus Bangladesch bei uns, der sehr einsam war, weil es niemanden gab, der seine Sprache sprach.
Ich denke an eine alleinstehende Mutter, die mit ihrem Kind geflohen ist, ihr Mann lebt noch zu Hause, und sie vermisst ihn und die Heimat sehr. Dennoch hat sich sich auf das Hiersein eingelassen.
Secheneva: Zu lernen, sich in einer völlig neuen Umgebung zurechtzufinden, ist sehr wichtig. Auch Schwierigkeiten, mit denen man konfrontiert wird, kann man als positiv sehen. Diese Erfahrungen und die dabei erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten können auch für das spätere Leben, vielleicht auch in einem anderen Land, sehr hilfreich sein. Erfahrungen machen uns stärker für die Zukunft.
Was hilft bei der Überwindung?
v. Haugwitz: Wir versuchen, die Erfahrung der Fremdheit mit einer guten Betreuung und mit einem „Sorgepaket“ zu kompensieren, indem wir etwas anbieten, damit die Menschen sich zu Hause fühlen können. Das sind Sprachkurse, fünfmal in der Woche, es sind freundliche Lehrpersonen, die mehr Selbstsicherheit geben in fremder Umgebung, es sind Sportangebote wie zum Beispiel Fußball oder Klettern, es ist medizinische Beratung – all das vermittelt das Gefühl, nicht alleingelassen zu sein. Bei aller offenen und freundlichen Umgehensweise müssen natürlich manchmal auch Grenzen aufgezeigt werden.
Secheneva: Es sind insbesondere Menschen, die einem das Gefühl geben, man schafft das, man ist nicht alleine, hier ist jemand, auf den ich mich verlassen kann. Zum Glück haben wir im Wohnheim sehr herzliche und kompetente hauptamtliche und ehrenamtliche Mitarbeiter. Mit ihrer Hilfe sorgen wir dafür, dass unsere Bewohner in allen Lebensbereichen unterstützt werden. Wir legen großen Wert auf den Ansatz Hilfe zur Selbsthilfe. Mit unseren Angeboten (Sportangebote, Sprachkurse, Frauengruppe etc.) versuchen wir, den Alltag der Bewohner vielfältig zu gestalten und in erster Linie Selbstständigkeit zu vermitteln. Da wir eine Notaufnahme sind, liegt die durchschnittliche Aufenthaltsdauer unserer Bewohner in der Regel zwischen 3 Tagen und 3 Monaten. In dieser kurzen Zeit ist unser größtes Ziel, die Menschen durch unsere Betreuung und Beratung auf ihren weiteren Aufenthalt in Deutschland vorzubereiten und mit allen dafür notwendigen Informationen auszustatten.
Was sind ihre persönlichen Strategien im Umgang mit Fremdheit?
v. Haugwitz: Ich bin selbst viel im Ausland gewesen und damit dort fremd. Ich habe dann immer versucht, Kontakt zu den Menschen vor Ort zu knüpfen und etwas gemeinsam mit ihnen zu machen, bin zum Beispiel in einen Chor oder einen Sportverein gegangen. Ich habe mich nie eingeigelt in kleinen heimatlichen nationalen Grüppchen. Zugang zu der jeweiligen Kultur zu suchen, sich zum Beispiel auf das fremde Essen einzulassen, all das überwindet Fremdheit.
Secheneva: Ich finde, es ist immer sehr wichtig, Kontakt zu den Menschen zu suchen und vor diesem Kontakt keine Angst zu haben. Nur so kann man das Land, seine Menschen besser kennenlernen und verstehen, wie die Gesellschaft funktioniert. Man sollte auch versuchen, so viele Dinge wie möglich selbstständig zu tun, auch wenn es einem schwer fällt oder am Anfang sogar unmöglich erscheint. Aber je öfter man etwas selbst gemacht hat, desto besser kann man es beherrschen. Man sollte keine Angst haben, sich auf das Neue einzulassen.