Einzelkind mit Geschwistern

Heine v.A. (78) hat einen 11jährigen Sohn, aus der ersten Ehe zwei erwachsene Söhne (40 und 51) und eine Tochter (47). Er selbst ist mit fünf Geschwistern aufgewachsen. Marianne Ricking spricht zunächst mit ihm und dann mit dem 11jährigen Martin.

M. Ricking: Wie wichtig war in der Kinderzeit Deine Beziehung zu Deinen Geschwistern?

Heine v.A.: Ob das wichtig war – ich weiß es nicht; es war einfach für mich selbstverständlich. Ich konnte mir nicht vorstellen, Einzelkind zu sein; wir waren stolz darauf, mit vielen Geschwistern aufzuwachsen. Wir waren nach dem Krieg zunächst ziemlich arm, mein Vater war häufig arbeitslos. Er schlug sich als einfacher kaufmännischer Angestellter durch (später Offizier bei der Bundeswehr). Sonntags gab es nach dem sparsamen Mittagessen den berühmten "Sonntagsspaziergang"; das war für uns Kinder oft qualvoll – wir mussten uns alle disziplinieren.

Mit wie vielen Geschwistern bist Du aufgewachsen?

Ich habe fünf Geschwister. Ich bin der Drittälteste. Zwei Schwestern sind vor mir, zwei Schwestern und ein Bruder kommen nach mir. Als ältester Junge war ich der Stammhalter. Ich durfte den Namen weitergeben, auf den wir immer sehr stolz waren – stolz darauf, eine "Kleinadelsfamilie" zu sein. 
Wir lebten in einer Arbeitersiedlung in einer kleinen Dreizimmerwohnung. Alle sechs Kinder schliefen in selbstgezimmerten Betten, die oft quietschten. Ich war ein sehr unruhiges Kind; manchmal bin ich im Treppenhaus aufgewacht, bin wohl schlafgewandelt.

Martin und sein Vater sind trotz des großen Altersunterschiedes eng verbunden. (c) SilviaBins

Martin und sein Vater sind trotz des großen Altersunterschiedes eng verbunden.

War das Verhältnis zu den Schwestern anders als das zum Bruder?

Es gab zwei große Bündnisse: die drei Ältesten und die drei Jüngsten; für meine großen Schwestern fungierte ich als eine Art Bodyguard, ich begleitete sie, wenn sie in Ferien fuhren.

Du warst in der Rolle des großen Bruders, obwohl deine beiden Schwestern älter waren?

Ja, das war einerseits problematisch ob meines jungen Alters, und andererseits war ich stolz darauf, für die Schwestern so wichtig zu sein. 
Mit Gudrun war ich besonders verbunden. Mechthild ging mit 16 Jahren nach London als Au-pair-Mädchen. So waren wir dann zu fünf Geschwistern. Zu dieser Zeit – ich war 14 – zogen wir von Krefeld nach Köln. Ich besuchte das Friedrich-Wilhelm-Gymnasium, damals ein reines Jungengymnasium. Meiner Mutter war das wichtig, weil ich in preußischer Tradition "groß" werden sollte. Ich habe mich dort sehr wohl gefühlt.

Ist Deine Schwester Gudrun auch mit nach Köln gezogen?

Nein, sie lebte bei Bekannten in Krefeld, damit sie dort die Schule beenden und das Abitur machen konnte. Meine älteste Schwester Mechthild durfte kein Abitur machen, weil die Eltern dies nicht finanzieren konnten. Das ist für sie noch heute schwierig, wenngleich Mechthild erfolgreich war; sie ist als Abgeordnete ins Europaparlament gewählt worden und lebt in der Nähe von Brüssel.

Was bedeutete dieser frühe Weggang der älteren Schwestern für die Geschwisterbeziehung?

Mechthild hatte sich ja schon sehr früh nach England aufgemacht, und als Gudrun zum Studium nach Bonn ging, entstand ein neues, sehr enges Verhältnis zu ihr. Es gab das schon vorher, aber es wurde durch ihren Weggang noch intensiver. Ich unterstützte sie, wo ich konnte. Sie heiratete später ihren westfälischen/bergischen Freund, mit dem ich zunächst sehr vertraut war, aber leider zerbrach unser Verhältnis an diversen Streitfragen. Das stand natürlich auch zwischen mir und meiner Schwester. Mittlerweile ist sie verwitwet. Und wir beide haben wieder unser altes gutes Miteinander. Sie hat den Anschluss an ihre Geschwister gesucht.

Gibt es einen Unterschied im Verhältnis zu den Geschwistern nach "oben" und nach "unten"?

Ja, ganz klar, meine Beziehung zu meinen beiden älteren Schwestern, und hier besonders zu Gudrun war immer besonders intensiv. Mit zunehmendem Alter ist auch der Kontakt zur jüngeren Schwester Claudia stärker geworden. Wir sind wieder mehr zusammengewachsen. Sie lebt in Berlin und Köln; aber mittlerweile mit Schwerpunkt hier in Köln.

Haben Eure Eltern Unterschiede gemacht in der Behandlung der Kinder? Hattest Du als ältester Junge Vorteile?

Den Mädchen gegenüber auf jeden Fall. Obwohl ich immer ein schlechter Schüler war, musste ich das Gymnasium besuchen und beenden, aber sonst wurde mir nichts vorgegeben. Der Weg ins Studium war eine völlig freie Entscheidung von mir.

Haben Deine Eltern Euch eher liberal erzogen?

Letztendlich ja, zumindest was den Bereich der Bildung angeht. Ansonsten war mein Vater sehr streng in seinen Vorgaben uns Kindern gegenüber. Er nahm auch schon mal die Reitpeitsche zur Hand (die er als ehemaliger Offizier noch besaß – und irgendwann später verschwinden ließ); was dann aber fast ausschließlich meine Person betraf. Meine Schwestern nahmen dann Anteil. Mein jüngerer Bruder war von solchen Maßnahmen nicht betroffen.

Haben die vielen gemeinsamen Erinnerungen Euer geschwisterliches Band gestärkt?

Ja, das ist so. Sicher haben wir im Erwachsenenalter erst einmal alle unseren Weg gesucht. Diese individuellen Wege haben unsere Beziehungen näher oder ferner werden lassen. Mit zunehmendem Alter haben wir unsere Beziehungen neu definiert und uns neu gefunden. Dafür bin ich sehr dankbar. Meine geschwisterliche Familie erlebe ich als Bereicherung mit allen Höhen und Tiefen, die uns durch die letzten Jahrzehnte begleitet haben.

Der 11jährige Martin legt Wert auf ein Gespräch unabhängig von seinem Vater. Marianne Ricking kennt er schon seit der Kindergartenzeit.

Du hast sehr viel ältere Geschwister, zwei Halbbrüder und eine Halbschwester, mit denen du aber nicht zusammenlebst. Wie ist das für Dich, Geschwister zu haben?

Martin: Das ist sehr schön, Geschwister zu haben, vor allem so große. Meine beiden großen Brüder heißen Benny und Nathan und meine Schwester Cordelia.

Ist Dein Kontakt zu beiden Brüdern gleich?

Zu Benny (der ist 40 Jahre alt) habe ich den meisten Kontakt, zu Nathan (55 Jahre) habe ich nicht viel und zu Cordelia (47) fast gar keinen Kontakt. Als Benny noch in der Nähe wohnte, konnten wir uns öfter sehen, jetzt wohnt er in Niehl, da sehen wir uns nicht mehr so oft, aber wir "whatsappen" öfter miteinander! Das finde ich super! Ich habe auch nicht soviel Zeit, weil ich zum Gymnasium gehe und die Musik (Domchor) sehr viel Zeit in Anspruch nimmt.

Gibt es Dinge, die euch gemeinsam interessieren?

Mich interessiert sehr die Musik, aber das ist nicht so Bennys Thema, weil er nicht so musikalisch ist; wohl aber Bennys Frau, die ist Cellistin. Er malt gern, und er macht jetzt eine Ausstellung.

Empfindest du dich mehr als Geschwisterkind oder eher als Einzelkind?

Ich lebe als Einzelkind, ganz klar, aber ich finde es auch schön zu wissen, dass ich Geschwister habe und im Notfall nicht alleine bin.