Vom Geist der Geschwisterlichkeit

"Siehe, wie gut und wie schön ist es, wenn Brüder miteinander in Eintracht wohnen." (Psalm 133,1)

Kinder sind nach biblischer Überzeugung ein Segen. Ausbleibender Kindersegen ist dagegen oft mit Trauer, Schmach und Vereinsamung verbunden. Aber wie verhält es sich in der Bibel mit "Geschwistersegen"?

Abel wird seinen Bruder Kain, der ihn erschlägt, kaum als Segen empfunden haben. Josef wird seine Brüder, die ihn als Sklaven nach Ägypten verkaufen, nicht als Segen empfunden haben. Auf David waren seine Brüder neidisch, Martha war auf Maria eifersüchtig, Rachel auf Lea, Esau war zu Recht sauer auf Jakob …

Von daher lässt sich der eingangs zitierte Psalmvers im Idealfall zwar wörtlich interpretieren ("Siehe, wie gut und wie schön ist es, wenn Brüder – und Schwestern – miteinander in Eintracht wohnen.").  
Aber in welcher Familie herrscht schon der "Normalfall"? Bei mir und meinen fünf Geschwistern war es auf jeden Fall nicht so. 
Doch dann kann man den Vers auch ironisch lesen: "Schaut mal genau hin, die als "Brüder" so tun, als ob sie in Eintracht leben …"

Ganz schwierig wird es, wenn wir uns Jesus und seine "heilige Familie" anschauen. Irritiert wird zum Beispiel in Matthäus 13,55f gefragt: "Ist das nicht der Sohn des Zimmermanns? Heißt nicht seine Mutter Maria und sind nicht Jakobus, Josef, Simon und Judas seine Brüder? Leben nicht auch alle seine Schwestern unter uns? Woher also hat er das alles?"

Wenn heute vom "Geist der Geschwisterlichkeit" gesprochen wird, dann meint dies: Wahrnehmen auf Augenhöhe, Abbau von

Vor-Urteilen, respektvoller und wertschätzender Umgang untereinander, Auseinandersetzungen nicht mit dem Ziel persönlicher Diffamierungen, sondern mit dem Ziel von Erkenntnisfortschritt und Klärungen.

Bei allen Unvollkommenheiten, bei allem Neid und Eifersüchteleien, bei allem nicht gelungenem Verstehen oder Versöhnen: Ich habe von und mit meinen Geschwistern viel gelernt. Und ich glaube, auch von den biblischen Geschwistergeschichten können wir viel lernen. Vielleicht ist ein "Lernschlüssel" dazu eine Ermutigung, die Paulus an die Gemeinde in Korinth schreibt: "Seht doch auf eure Berufung, Brüder und Schwestern!" (1. Korintherbrief, Kapitel 1, Vers 26)

Johannes Quirl

Geschwisterliche Verbundenheit in der Ökumene (c) SilviaBins

Geschwisterliche Verbundenheit in der Ökumene