Raymund Weber: Ja, das sind die Eckpunkte. Die Basis ist aber zuerst einmal, dass man sich klar macht: Das ist nicht mein Text, sondern ein fremder Text. Den fremden Text gilt es zu verstehen. Ich muss verstehen, was der Autor will, muss seine Intention begreifen und seine Sprechhaltung und mich fragen, handelt es sich um einen nüchternen Bericht, eine theologische Reflexion, eine prophetische Vision, um eine Ermahnung, etwas Hymnisches, um einen Lobpreis? Und dann muss ich einen Weg finden, wie ich die jeweilige Intention und Emotion beim Lesen deutlich werden lasse. Bei einem trockenen biblischen Bericht sollte entsprechend schlicht vorgelesen werden, bei einer hymnischen Passage sollte die Freude mitschwingen.
Christoph Schmitz: Also sind schauspielerische Qualitäten gefordert?
Raymund Weber: Genau. In gewisser Weise gehört zum Vortragen biblischer Texte im Gottesdienst eine schauspielerische Fähigkeit. Denn man leiht dem Text ja nicht nur seine Stimme, sondern auch seinen eigenen Körper und seine Mimik.
Manuela A.: Ja, mir geht es tatsächlich darum, eine Rolle zu verkörpern. Wobei ich gestehen muss, dass ich mich das mitunter auch nicht so recht traue. Manchmal muss ich meine Hände förmlich am Ambo festhalten, damit ich nicht wild herumgestikuliere. Zugleich denke ich, dass ein theatralischer Gestus unangemessen wäre.
Raymund Weber: Das stimmt. In diesen Zusammenhang gehört die Frage, ob und wenn ja, wie oft man beim Vorlesen die Zuhörenden anschaut. Ich rate in meinen Seminaren immer dazu, am Anfang, bei der Ankündigung dessen, woraus man vorliest, die Gemeinde anzuschauen, dann den Blick auf den Text zu richten, ihn vorzulesen und am Ende, wenn es heißt, "Worte der Lesung" oder "Evangelium unseres Herrn Jesus Christus", wieder aufzuschauen. Das reicht an Blickkontakt. Denn wenn man in den Text schaut, macht man deutlich, dass ich nicht die eigenen Worte spreche, sondern die eines anderen.