VOM schnellen, langsamen, lauten, leisen LESEN

Einige unsortierte Gedanken zum Thema Lesen

Cäsar berichtet in seinem Buch "Vom Gallischen Krieg", dass es bei den Galliern nicht erlaubt war, die überlieferten Gesänge aufzuschreiben. In allen übrigen Angelegenheiten aber bedienten sich die Gallier durchaus der Schrift. Man vermutet, dass sie ihre alten Gesänge im Gedächtnis und im Erzählen und Singen sicherer aufgehoben glaubten als in der Schrift. Wir wissen auch, dass die Ilias und die Odyssee über Jahrhunderte nur mündlich überliefert wurden, so wie auch die großen Mythen der Genesis.

Doch anders als die mündliche Tradition bei den Galliern und den Griechen ist uns heute die schriftliche Tradition vertrauenswürdiger. Es gibt so viel Literatur, Lieder und Texte – das passt in kein menschliches Gedächtnis hinein. Das muss geschrieben und gedruckt werden, wenn es erhalten bleiben soll.

Wie wichtig aber die Buchstaben des Alphabetes sind, zeigt eine alte, leider ausgestorbene Liturgie am Vorabend einer Kirchweihe. In die leere Kirche wurde mit Asche ein großes, diagonales Kreuz gelegt. Und der Bischof zeichnete mit seinem Bischofsstab das griechische und das lateinische Alphabet in die Asche. Die Kirche steht auf dem Wort der Schrift.

"Hier geht es ja zu, wie in einer Judenschule." So sagt man, wenn alle durcheinanderreden. Heute liest man normalerweise leise und stumm. Aber noch zur Goethezeit las man laut. Wie in der Judenschule, wo alle Kinder ihren Text laut vor sich hin lasen. So auch das Gebet, Juden beten laut und nicht schweigend. Etwas davon ist im Brevier-Gebet geblieben. Es soll labialiter, d. h. hörbar leise, gebetet werden. Warum?? Nehmen Sie sich mal einen Psalm vor, irgendeinen. Bei den Nonnen wurden die Psalmen oft auf einem gleichbleibenden Ton gebetet, ohne jede Modulation. Beim Chorgebet der Mönche werden die Psalmen mit den festen Formen der Psalmodien gesungen. Und dann nehmen Sie Ihren Psalm, den Sie sicher still gelesen haben, sprechen Sie ihn mal laut – ohne vorgegebene Form. Dann merken Sie, was da an Emotionen drin steckt, Hoffnung und Verzweiflung, Höhen und Tiefen…. Das alles kann nur durch lautes und freies Lesen wieder lebendig werden. Feste Formen töten die Emotionen. Am Anfang steht das lebendige Wort – es wird durch die Buchstaben und die Schrift sozusagen eingemacht, konserviert. Der Leser nimmt es auf, befreit und belebt es wieder.

Detail aus: 'Tod des heiligen Martin' (Tafel IV) der Severinuslegende im Hochchor von St. Severin (c) Kolumba, Köln; Lothar Schnepf

Detail aus: 'Tod des heiligen Martin' (Tafel IV) der Severinuslegende im Hochchor von St. Severin

Sie haben sicher noch einen alten Liebesbrief oder den Brief eines lieben Menschen in irgendeiner Schublade liegen. Lesen Sie den mal langsam und laut. Könnte es sein, dass Ihnen der Autor des Briefes lebendig wird, dass Sie seine Stimme hören?

Das gilt nun nicht für alles, was gedruckt wird. Es gilt nicht für das Kleingedruckte, für die AGBs, nicht für Beipackzettel und Gesetzestexte und dergleichen. Das gilt nur für Literatur. Aber was ist Literatur? Alles, was mit Liebe zur Welt, zum Menschen und zur Sprache geschrieben wurde, ist Literatur.

Leise Lesen heißt aber auch schneller lesen. Ein Vergleich mit dem Essen sei gestattet. Wer Hunger hat und wenig Zeit, stopft sich was rein – auf der Straße, aus der Tüte – und ist satt. Aber wie hat es geschmeckt? Keine Ahnung. Hauptsache ich bin satt. Aber satt sein ist beim Essen ja nicht alles: eine kleine Portion auf dem Teller, der Duft, die Farbe, die Struktur, der sich wandelnde Geschmack auf der Zunge: mmmh lecker. Ein ganz anderes Erlebnis als schnell satt zu werden. Lesen ist also auch meditieren. Einen Text lesen und immer wieder lesen, ihn sozusagen kauen, in seine Tiefe steigen, ihn sich aneignen …
Ein Bild legt fest. Es brennt sich fest ins Hirn und bleibt. Und alle, die das Bild gesehen haben, haben mehr oder weniger das gleiche Bild im Kopf. Ganz anders die gelesenen Worte. Unsere Erfahrung und unsere Phantasie nehmen das Gelesene auf und formen es zu ganz individuellen Vorstellungen. Jeder hat andere Bilder im Kopf. Das Wort macht frei, das Bild legt fest.

Bekannt ist das Wort Heraklits: Kein Mensch steigt zweimal in den gleichen Fluss. Das gilt auch für Bücher. Kein Mensch liest zweimal das gleiche Buch. Er entdeckt neue Perspektiven, was beim ersten Lesen unbedeutend war, gewinnt nun an Gewicht … usw.

So lieber Leser, jetzt lesen Sie bitte weiter, was andere zu diesem Thema geschrieben haben.

Ihr Johannes Krautkrämer