Gott ist Brasilianer

Diakon Dr. Barthel Schröder über eine besondere Form des Beschenkt-Werdens.

Im Herbst 1978 gingen meine Frau und ich mit unserer fünf Wochen alten Tochter für ein Jahr nach Rio de Janeiro in Brasilien. Wir bezogen ein kleines Einzimmer-Apartment in einem Hochhaus im Stadtteil Copacabana. Mehr Komfort ließen mein Gehalt als Assistenz-Professor und die galoppierende Inflation im Lande nicht zu. Neben uns auf dem Flur lebte eine Familie mit zwei Kindern unter den gleichen Wohnverhältnissen. Die Frau war hoch schwanger, als wir einzogen. Nachdem sie Anfang Dezember ihr drittes Kind entbunden hatte, überbrachte meine Frau, wie wir es von Zuhause kannten, unseren Nachbarn ein kleines Geschenk für das Neugeborene. Ein paar Tage später lud uns der Nachbar daraufhin zu einem Abendessen ein. Als wir den Termin in unsere Kalender eintragen wollten, stellten wir fest, dass man uns zu Heiligabend eingeladen hatte. Wir gingen davon aus, dass hier ein Versehen vorliegen musste, und wollten daher einen neuen Termin ausmachen. Doch die Antwort von Andre, unserem Nachbarn, lautete: Den Termin haben wir ganz bewusst ausgewählt. An diesem Tag wird euch die Trennung von euren Familien doch besonders schwer fallen.

Und ist zudem nicht aus der Sicht Gottes gerade Heiligabend das Fest der Liebe? 

Wir verbrachten trotz der Enge der Wohnung und trotz unseres noch beschränkten brasilianischen Wortschatzes einen wunderschönen Abend zusammen. Wir waren beschenkt worden.

Und der Abend wurde zum Beginn der Freundschaft mit Lourdes und Andre. 

Es sind in der Regel die kleinen Dinge, die ein Gefühl des Beschenktseins entstehen lassen.

Dies klingt an, wenn wir davon sprechen, dass uns jemand Zeit, Gehör, Glauben, sein Herz, Liebe geschenkt hat, Dinge, die keinen materiellen Wert darstellen, aber in ihrer Nicht-Selbstverständlichkeit als besonders wertvoll erfahren werden. Ein Schenken von Zeit, Gehör, Glauben, Herz und Liebe ist nur unter Gewährung einer besonderen Nähe möglich. Eine Übergabe materieller Geschenke setzt dies nicht notwendigerweise voraus, sind doch auch Gewohnheit, Berechnung oder eine als notwendig erachtete Revanche nicht selten Triebfedern des Schenkens.

Andre hat das Wesen von Weihnachten auf den Punkt gebracht, wenn er von einem Fest der Liebe sprach. Gott hat uns in der Geburt des Jesus von Nazareth beschenkt, weil er uns in diesem Wanderprediger nahe gekommen ist, uns in ihm eine nicht überbietbare Nähe gewährt hat. Diese Gewährung von Nähe ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit, sie ist Zeichen Seiner grenzenlosen Zuneigung zu den Menschen. Um Beschenktsein wirklich erfahren zu können, ist vielleicht ein gewisses Maß an Einfachheit und Eingeschränktsein eine Hilfe. Vielleicht darum die Geburt in einer Krippe, in einem in den Boden eingelassenen Futtertrog, vielleicht darum die für vier Erwachsene und vier Kinder viel zu enge Wohnung in Rio. 

Wir fühlten uns durch die Einladung von Lourdes und Andre beschenkt, aber auch etwas beschämt. Wir wären von uns aus nie auf diese Idee Fremden gegenüber gekommen.

Warum eigentlich nicht? Heißt es doch bei Paulus: "In allem werdet ihr reich genug sein, um selbstlos schenken zu können" (2. Korintherbrief Kapitel 9 Vers 11). Andre und Lourdes haben uns ein Beispiel gegeben, das wir nicht nur nicht vergessen, sondern auch nachahmen.

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Barthel Schröder