Eine drastische und fortschreitende Einschränkung des Sehens verunsichert Heide H. in vielen Bereichen des Lebens. Aber sie gibt nicht auf und entdeckt sogar positive Aspekte der reduzierten Sicherheit.
"Sie haben Makula-Degeneration. Die gibt es in zwei Versionen, die feuchte und die trockene. Sie haben die feuchte, die aggressivere Form", sagte die Augenärztin. "Es ist behandelbar, aber nicht heilbar. Sie werden Spritzen in den Augapfel bekommen."
Das war vor zwölf Jahren. Seither habe ich vieles lassen müssen, was ich für unverzichtbar hielt: Autofahren, Malen, Lesen, Bücher ...
Und viele Dinge des Alltags haben sich verändert:
Sobald ich das Haus verlasse, muss ich mich sehr konzentrieren. Die Straße ist eine ständige Herausforderung, zum Beispiel das Überqueren ohne Fußgänger-Ampel; die Radfahrer, die E-Scooter – man sieht und hört sie nicht. Es gibt Dinge, die im Weg stehen, Verglasungen, die man nicht früh genug wahrnimmt. Treppen und Bürgersteige verunsichern mich, wenn sie sich nicht farblich abheben.
Und ständig begleitet einen die Angst vor einem Unfall und vor Übergriffen, weil man das Umfeld nicht mehr einordnen kann.
Steht im Supermarkt ein Einkaufswagen quer oder höre ich am Geräusch, dass da gerade Ware ausgepackt wird und Kartons im Gang liegen? Beim Bezahlen mit Bargeld machen Scheine und Münzen in der Unterscheidung Probleme, bei Kartenzahlung ist die PIN-Eingabe ein Problem. Es gibt so viele Situationen im täglichen Leben, die mit Sehbehinderung zu einer Schwierigkeit werden, ich möchte sie nicht alle aufzählen.
Inzwischen habe ich über 90 Spritzen im linken Augapfel, aber leider hat die Krankheit gewonnen. Man kann sich vorstellen, dass das eine große seelische Belastung und eine starke Verunsicherung ist. Nun bange ich um mein rechtes Auge.
Aber es gibt Positives. Ich habe nach langem Hadern und nach viel Wut eine versöhnliche Beziehung zu meiner Einschränkung gewonnen. Ich nenne das absichtlich nicht Krankheit, denn da gibt es Schlimmeres. Ich bin jetzt durch viele Hörbücher geübt, mich auf Stimmen einzustellen, und ich freue mich sehr, wenn auf der Severinstraße jemand meinen Namen ruft. Ich erkenne die Personen optisch erst spät, aber die Stimmen erkenne ich sofort. Beim Einkaufen kann ich jetzt darum bitten, mir etwas aus dem Regal anzureichen, weil ich nicht mehr lesen kann, was auf der Verpackung steht. Ich erlebe nun, wie gerne Menschen helfen. Der anonyme Einkauf, wie ich ihn von früher kenne, als ich noch alles konnte, hat sich in eine kurzzeitige kleine und sehr bereichernde Kontaktbörse verwandelt. Dankbar bin ich auch den Damen an der Kasse. Diejenigen, die um meine Sehschwäche wissen, sagen dann sehr bestimmt: "Geben Sie mal ihr Kleingeld her" und nehmen mir den Kampf mit den Münzen ab. Und so vereinen sich an einer Supermarktkasse Hilfe und Vertrauen.
Mein Zuhause habe ich so geregelt, dass alles immer am gleichen Platz liegen sollte. Wenn das nicht der Fall ist, wird das Suchen zu einer nervösen Anstrengung. Natürlich habe ich oft einmal Angst, wie es weitergehen wird. Aber das haben wir, glaube ich, alle einmal.
Und so lebe ich in meinem Severinsviertel, freue mich über jedes "Hallo" auf der Straße, weil man mir die Wiedererkennung abnimmt. Ich will noch lange hier in meinem Viertel leben und meine Kerzen in St. Severin anzünden; das gelingt mir, Gott sei Dank, ohne Probleme.