Geduldet: Nichts ist sicher

Angesichts der Kriegshandlungen in der Ukraine und der von dort zu uns geflüchteten Menschen sind Geflüchtete aus anderen Ländern und Regionen in der öffentlichen Wahrnehmung fast verschwunden, stellt Iris Bienert fest. Sie leitet seit vielen Jahren gemeinsam mit ihrem Kollegen Mousa A. eine Einrichtung für Geflüchtete in der Ankerstraße. Hier leben 72 Männer aus insgesamt 24 Nationen. 

Durch eine Toreinfahrt komme ich in den Hof hinter dem Haus, wo es lebhaft zugeht. Überall stehen Fahrräder, an denen gearbeitet wird, es wird Kaffee getrunken und geredet. Im Büro der Leiterin des Hauses ist es ähnlich lebhaft – ein Kommen und Gehen, es klopft an der Tür, das Telefon klingelt. 

"Ich habe angefangen, intensiv über das Thema Sicherheit nachzudenken, nachdem ich wusste, dass es das Thema des nächsten Pfarrbriefes ist" – eröffnet Iris Bienert das Gespräch. Sie liest unsere Pfarrbriefe und gibt uns ab und an auch eine Rückmeldung dazu. Seitens der Pfarrgemeinde sind wir häufiger in Kontakt, wenn ehrenamtliche begleitende Unterstützung für einen Bewohner ansteht. "Sicherheit hat für mich nicht nur mit materiellen Dingen zu tun, Sicherheit ist die Abwesenheit von Angst, und das ist ein großes Thema hier", betont Iris Bienert. Sie erlebt Menschen, deren traumatische Erfahrungen lebenslang prägend sind. 
So berichtet sie von einem Bewohner, der den Einmarsch von IS-Truppen in sein Dorf erlebte und nun von den vielen Greueltaten verfolgt wird: "Es ist wie eine Schallplatte mit Sprung, der Schrecken kommt immer wieder." Viele Bewohner haben Schreckliches und große Unsicherheiten erlebt, die sie ihr Leben lang nicht vergessen oder verarbeiten können. Äußerlich leben sie in der Einrichtung in Sicherheit, aber ... 

Eine gravierende Verunsicherung rührt für viele Bewohner daher, dass sie über Jahre kein gesichertes Aufenthaltsrecht haben, lediglich eine "Duldung". Die muss immer wieder neu beantragt werden, Verlängerung ungewiss. Sie können nicht sicher sein, wo ihr Zuhause ist. "Sie haben keine Überlebensangst, aber eine Zukunftsangst, denn sie können nicht verlässlich planen." Für Bienert ist es nicht einfach zu erklären, warum geflüchtete Menschen aus der Ukraine schneller einen Aufenthaltstitel, schneller eine Wohnung bekommen, Privilegien genießen, die vielen Geflüchteten aus anderen Ländern und Kriegsgebieten verwehrt sind. Ein gewichtiges Argument: In der Mehrzahl geht es um Frauen und Kinder, die ein besonderes Maß an Sicherheit brauchen.

Gefragt, was den Menschen ein Stück Sicherheit vermittelt könnte, nennt sie als Beispiel die Fahrradwerkstatt, die sich seit einiger Zeit im Hof der Einrichtung angesiedelt hat – geöffnet an jedem Dienstag. Da kann man ohne Sprachbarriere mitarbeiten, man ist wer, ist anerkannt und geschätzt, so ihre Erfahrung. Auch eine ehrenamtliche begleitende Unterstützung vermittelt Sicherheit und Nähe, vorausgesetzt, dass es eine respektvolle Verbindung ist, in der die Augenhöhe gewahrt wird. Sie selbst muss in ihrer Funktion professionelle Distanz wahren, umso wichtiger ist es, dass andere Kontakte geknüpft werden können. "Solidarität schafft Sicherheit", stellt sie fest, "ebenso wie eine Arbeitsstelle, die einige der Bewohner gefunden haben. Da kommt zur Sicherheit noch die Stabilität."

Das Zusammenleben so vieler Menschen auf engem Raum ist nicht einfach. Jeder Bewohner hat ein eigenes, kleines Zimmer, dessen einfache Grundausstattung zur Verfügung gestellt wird. Die Möblierung der Zimmer kann von den Menschen ergänzt oder ganz durch eigene Möbel  ersetzt werden. Küche und Sanitäranlagen sind gemeinsam zu nutzen – eine nicht zu unterschätzende Herausforderung bei unterschiedlichen Sprachen, Religionen und kulturellen Gegebenheiten. Da braucht es – um der Klarheit und Sicherheit willen – nicht selten Bienerts Vermittlung oder auch klare Ansagen.

Iris Bienert hat eine Hoffnung, die bezieht sich auf eine neue Gesetzgebung bezüglich der Umwandlung einer Langzeit-Duldung in einen Aufenthaltstitel: "Vielleicht gibt das den Menschen, die schon solange hier in Deutschland nur mit einer Duldung leben müssen, die Chance auf ein Stück Zugehörigkeit und damit auch mehr Sicherheit."
    

In der Fahrradwerkstatt sind alle anerkannt und wertgeschätzt - ohne Sprachbarriere, (c) SilviaBins

In der Fahrradwerkstatt sind alle anerkannt und wertgeschätzt - ohne Sprachbarriere,