Toleranz als Haltung

Obdachlosenseelsorger Stefan Burtscher versetzt sich in die Lage eines Mannes von der Straße. Für ihn ist Toleranz nicht ein Wort, sondern eine Haltung, die ein Tun fordert: zu lernen, mutig auf einander zuzugehen und zuzuhören; bereit zu werden, Unterschiede zu akzeptieren und Ähnlichkeiten zu erkennen, um so Schritt für Schritt eine Gesellschaft zu werden, in der jeder Mensch einen Platz hat.

In den Straßen, wo ich oft meine Nächte verbringe, ist Toleranz ein seltener Luxus. Viele Menschen laufen an mir vorbei. Viele beachten mich gar nicht, manche sehen mich an mit Blicken voller Ablehnung. Sie sehen nicht den Menschen hinter der zerfetzten Jacke und der Tüte mit Pfandflaschen, sondern nur ein Bild von dem, was sie fürchten oder verachten. Ich bin nicht nur obdachlos – für viele bin ich auch als Mensch unsichtbar.

Toleranz bedeutet für mich, dass man versucht, die Geschichten anderer zu verstehen. Jeder und jede von uns hat eine eigene Geschichte, die uns zu dem gemacht hat, was wir heute sind. Ich war einmal wie viele: Ich hatte Träume und Hoffnungen und einen Platz in der Gesellschaft. Doch das Leben hat mich andere Wege geführt. Am Anfang stand ein Fehler, ein Unglück kam dazu, das mich aus der Bahn warf und letztlich aus der Gesellschaft. Ich wünsche mir, dass Menschen erkennen, dass wir Wohnungs- und Obdachlosen "Lück wie ich un du" sind.

Wenn ich auf der Straße sitze und nach Kleingeld frage, erlebe ich meist Ablehnung, manchmal Ignoranz und oftmals ungefragte Ratschläge. Doch gibt es diese wenigen, die mir ein Lächeln schenken, die mich fragen, wie es mir geht oder mir eine warme Mahlzeit bringen. Diese Gesten der Toleranz sind wie Sonnenstrahlen an einem grauen Tag.

Ich träume von einer Zukunft, in der Toleranz keine Ausnahme ist, sondern die Norm, keine Geste, sondern eherne Regel. Eine Welt, in der jeder und jede, unabhängig von der jeweiligen Situation, als Mensch wahrgenommen und anerkannt wird. Das ist es, was ich mir letztlich und zutiefst wünsche: Verständnis und Gerechtigkeit statt Mitleid und Almosen.   

5e884d04-36ae-4fc3-8f57-fcd87df0495b (c) SilviaBins