Über Toleranz als christliche Herausforderung

Toleranz - ohne sie scheint ein Zusammenleben von Menschen nicht wirklich möglich. Jedenfalls dann nicht, wenn es ein friedliches Zusammenleben sein soll, bei dem der Individualität des Menschen wirklich Rechnung getragen wird. Leider zeigt sich annähernd täglich: Toleranz ist keine Selbstverständlichkeit.

Auch die Theologie hat im Laufe der Geschichte ein Wechselbad der Gefühle gegenüber der Toleranz an den Tag gelegt. Was anders ist, erweckt Argwohn, wird allzu oft schlechtgeredet und verurteilt. Das hat das Christentum am eigenen Leib erlebt, als es von den vorherrschenden Führern entgegen ihren eigenen Überzeugungen gezwungen wurde z.B. den römischen Göttern zu opfern – man war wenig tolerant, dem Christentum gegenüber.

Im Jahr 313 wurde zwischen Konstantin I. (römischer Kaiser des Westens) und Licinius (Kaiser des Ostens) eine Vereinbarung getroffen, die "sowohl den Christen als auch überhaupt allen Menschen freie Vollmacht (gewährte), der Religion anzuhängen, die ein jeder für sich wählt".

Schön wär’s gewesen, hätte das Christentum daraus gelernt. Es hätte aus der eigenen Erfahrung tolerant sein können, als es selbst zur maßgebenden Religion in Teilen der Erde wurde. Doch die Realität sah anders aus.

Über Toleranz kann ich philosophieren, nachdenken, was es für sie in der Theorie alles braucht. Toleranz kann ich in meinem Leben in der Praxis umsetzen. Beides beschreibt die Theologie. Ich kann etwas tolerieren, weil ich mir eine Gegenleistung erhoffe ("Ich lasse dich, dann lässt du auch mich.") Sie kann auf Desinteresse beruhen ("Mir ist es egal, was du tust.") Toleranz kann aber auch ein aktives Anerkennen der Haltung, Meinung, Lebensweise … eines anderen Menschen bedeuten.

Die Theologie kennt auch den Gegenbegriff zur Toleranz: die Intoleranz. Wie oben schon erwähnt, das Christentum hat in seiner Geschichte beide Seiten kennengelernt und auch beide Seiten selbst gelebt! Schon früh hat die Erfahrung einer institutionell organisierten Intoleranz zur Entwicklung eines alternativen Umgangs mit Überzeugungsdifferenzen geführt – auch in der Theologie und in der Kirche! Tertullian (+ um 220) z.B. hat darauf theologisch den Gedanken der Freiheit des Glaubens (theoretisch) entwickelt. Ja, es hat dann gedauert, bis die Theorie zu einer Praxis wurde: Zum Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils hat unsere Kirche mit der Erklärung Dignitatis humanae (07.12.1965) die Religionsfreiheit anerkannt. Ohne den Wahrheitsanspruch abzutreten, sagt das Konzil, "dass die Menschen bei ihrem Tun ihr eigenes Urteil und eine verantwortliche Freiheit besitzen und davon Gebrauch machen sollen, nicht unter Zwang," sondern vom eigenen Bewusstsein und Wunsch geleitet. Hinter diesen Worten steckt die Bitte der Kirche: handelt nach eurem Gewissen! 

Im Mittelpunkt standen nicht mehr Überzeugungsinhalte oder die Festschreibung einer Wahrheit, sondern die Würde des Menschen und das persönliche Gewissen als wichtiger Ausdruck dieser Würde. Der Humanismus sagt: Friede ist wichtiger als Wahrheit. Ein bedeutsamer Meilenstein! Denn, wie Sebastian Castellio (1515-1563) es ausdrückt: "Letztlich sind immer Menschen Opfer der Verfolgung um der Wahrheit Willen, nicht Doktrinen."

Was braucht Toleranz? Die Theologie kennt für die aktiv gelebte Form drei Bereiche: 

1. Die Bereitschaft, die eigenen Vorstellungen durch Erfahrungen verändern zu lassen; 

2. Lebensbedingungen zu schaffen, die abweichende Auffassungen zu leben zulässt; 

3. Die Bereitschaft, mit der eigenen Position sich auf Gespräche und Argumente einzulassen.

Um dies zu können, braucht es eine starke eigene Identität. Toleranz bedeutet deswegen eben gerade nicht eine eigene Standpunktlosigkeit. Aber sie zielt auf eine "Zivilisierung der Differenz", wie es Michael Walzer ausdrückt. Es darf zu keiner Gewalt kommen, weder zu körperlicher, noch zu verbaler.

Die für die Menschen hohe Bedeutung von Toleranz kann nicht genug betont werden. Doch selbst ein so hohes Gut hat Grenzen: Spätestens dann, wenn die persönliche Freiheit eines Menschen eingeschränkt wird. Aber auch, wenn sie benutzt wird, um die Frage nach dem Wahren und Richtigen gar nicht mehr zuzulassen. Natürlich endet sie bei kriminellen Handlungen oder bei Äußerungen von menschenverachtenden Ansichten – eben immer dann, wenn die Würde eines Menschen verletzt wird.
 
Sven Thomsen (Kaplan)

Die meisten Religionen haben ihre eigenen Symbole.  Hier sind einige von diesen zu sehen. 

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