Vorsicht auf Gleis 1, es hat Einfahrt: die Toleranz

Wer auch nur einmal am Kölner Hauptbahnhof losgefahren ist, kennt den Trubel. Ankommende, Abfahrende, Suchende, Eilige, Verirrte, Im-Weg-Stehende; die große Anzeigetafel, die Durchsagen aus dem Lautsprecher … Dahinter und daneben gibt es Menschen, deren Lebensmittelpunkt der Bahnhof ist. Die vielen Bahnmitarbeiter, das Ladenpersonal, die Polizei, die Sammler und Bettler, Mühselige, Beladene, Gestrandete. Und die Bahnhofsmission.

Seit vier Jahren mache ich dort ehrenamtlich mit. Ich bin viel Bahn gefahren, kannte das Logo, hatte aber überhaupt keine Vorstellung von dieser Organisation. Irgendwo im Hintergrund schlummerte das Bild von pensionierten Lehrerinnen mit Faltenrock und Dutt, die mild lächelnd Tee kochen, Stullen schmieren und diese dann mit frommem Wunsch an arme Reisende geben. Tja, Pustekuchen! Statt Häkelwestchen tragen wir hellblaue Poloshirts, Westen oder Fleecejacken; und tatsächlich geben wir mehr Hinweise und Informationszettel als Kaffee aus, sind sparsam mit Sprüchen, versuchen eher, unser Ohr zu leihen. Guten Kaffee oder Tee kochen können wir aber auch prima!

Ganz am Ende von Gleis 1 liegt der Gastraum der Bahnhofsmission. Die meisten Leute, die ich hier treffe, stammen nicht aus meiner Bubble, sie sind anders, manche ganz anders. Anfangs fühlte ich mich ziemlich entspannt bei Verhaltensweisen Anderer, die im Großen und Ganzen zu meinen Werten und Vorstellungen passen. Wenn mir etwas grenzwertig vor- oder sehr laut daherkam oder einfach zu stark roch, atmete ich durch und ertrug es.

"Toleranz - die praktizieren wir doch alle." Die Zeit, meine KollegInnen und unsere Gäste haben mich gelehrt, dass da noch Luft nach oben ist. Keine andere Meinung oder Weltanschauung als die eigene gelten zu lassen, ist supereinfach – allerdings immer nur für die eine Person. Da wir den Gastraum der Bahnhofsmission als einen Ruhepunkt anbieten, muss es ein Toleranzraum sein: Im Rahmen unserer Hausordnung und unseres christlichen Weltbilds können wir jedem "seins" lassen. Ich habe gelernt, etwas zuzulassen, das ich nicht gut finde. Aber auch, dass es Grenzen gibt. Etwa bei dem Mann, der die aus Brasilien stammende Kollegin anblaffte: "Du kommst doch aus dem Urwald, von dir lasse ich mir überhaupt nichts sagen!" Als er im Gespräch nicht einsah, dass das eine pure Beleidigung war, vielmehr noch nachgelegt hat, war sein Aufenthalt im Gastraum beendet.

Ich habe an den Geschichten der Anderen erkannt, dass es oft Gründe für ihre Überzeugungen und für manches Verhalten gibt. Mein Verständnis für teils schwieriges Verhalten mancher Gäste ist mit den vielen Lebensgeschichten gewachsen. Inzwischen kann ich vieles verstehen, mal mehr, mal weniger. Verstehen bedeutet allerdings nicht automatisch Akzeptanz; viele Verhaltensweisen lehne ich ab, toleriere sie aber; halte sie nicht nur aus, sondern lasse sie zu. Auf diese Weise habe ich in der Bahnhofsmission einiges über das Leben und auch über mich dazu gelernt. Ich spüre meine Werte und bin dankbar dafür. Interesse am Anderen, Offenheit und Toleranz sind unverzichtbar. Meine Akzeptanz ist nicht starr, nicht formal, sie kann sich verändern; zum Glück schrumpft sie nicht. Und manchmal entstehen konkrete Impulse, zum Beispiel Frauensolidarität angesichts der prekären Situation der meisten unserer wohnungslosen Gästinnen – ein monatliches Treffen, das wir FrauenZimmer nennen. Das ist, objektiv betrachtet, nicht viel: ein geschützter Raum für ein paar Stunden, Gesprächsmöglichkeit an einem gedeckten Kaffeetisch, einander wahrnehmen und Interesse zeigen am Leben der Anderen, etwas vom Eigenen preisgeben. Aber jedes Mal ist dieser erste Samstagnachmittag im Monat für alle, die kommen, ein Ort und eine Gelegenheit, Toleranz zu üben. Das so zu nennen, fiele allerdings niemandem ein.

Barbara G

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