Diakon Dr. Barthel Schröder zeigt auf, welche Bedeutung die Vergangenheit für das Glaubensleben hat.
Die hebräische Sprache und damit das Alte Testament kennt nur zwei Zeitformen:
Vergangenes und Zukünftiges. Die Gegenwart ist quasi nur die Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft. Was jetzt gegenwärtig ist, ist im nächsten Moment schon Vergangenheit.
Ein weiterer Blickwinkel im Denken von Zeit kommt hinzu. Während wir die Vergangenheit „hinter“ uns haben und die Zukunft "vor" uns, hat der alttestamentliche Mensch die Vergangenheit "vor" seinen Augen und liegt die Zukunft, da noch nicht gewesen, "hinter" ihm.
Diese total andere Sicht von Zeit und Zeiten hat zur Konsequenz, dass der Vergangenheit als Ort der Sammlung von Erfahrungen in der Bibel eine besondere Bedeutung zukommt. Im Psalm 78 heißt es: "Was wir hörten und erfuhren, was uns die Väter erzählten, das wollen wir unseren Kindern nicht verbergen, sondern dem kommenden Geschlecht erzählen."
Auch die Sicht auf Gott bleibt von dieser Sicht von Zeit und Zeiten nicht unberührt. Auf die Bitte von Moses, Ihn sehen zu wollen, antwortet Gott: „Du kannst mein Angesicht nicht sehen; denn kein Mensch kann mich sehen und am Leben bleiben ... Wenn meine Herrlichkeit vorüberzieht, stelle ich dich in den Felsspalt und halte meine Hand über dich, bis ich vorüber bin. Dann ziehe ich meine Hand zurück, und du wirst meinen Rücken sehen. Mein Angesicht aber kann niemand sehen.“
"Den Rücken sehen" will ein "Im Nachhinein Sehen" zum Ausdruck bringen. Erst der Blick auf die Vergangenheit erlaubt, die Taten Gottes in Erfahrung zu bringen. Und darum werden nach Psalm 78 den Kindern "die ruhmreichen Taten und die Stärke des Herrn, die Wunder, die er getan hat" als Erfahrungen der Vergangenheit weitergegeben.
Auch unser Glaube ist im Kern nicht ein für wahr halten bestimmter Sätze. Er basiert vielmehr auf Erfahrungen der Vergangenheit, die uns von den ersten Christen in ihren Schriften und über unsere Mütter und Väter weitergegeben wurden: Inhalte der Predigten des Jesus von Nazareth, seine Auferweckung nach dem Tod am Kreuz, die schnelle Ausbreitung des Glaubens an Christus als Zeichen, dass Gott hinter dieser Überzeugung steht.
Unser Glaube an Gott meint vielmehr: Ich vertraue diesem Gott, ich lasse mich auf diesen Gott ein, ich binde meine Existenz an diesen Gott, weil nach den Aussagen vertrauenswürdiger Menschen in der Vergangenheit deutlich wurde, dass es alleine auf ihn ankommt, dass es keinen anderen gibt, zu dem wir als Menschen gehen können.
Für den großen evangelischen Theologen Karl Barth war die bleibende Existenz der Juden trotz aller Versuche sie auszulöschen, der Gottesbeweis schlechthin.
Wo Gott bei uns und für uns da war, wird daher auch erst im Zurückschauen auf unser Leben deutlich und erfahrbar. Die Handschrift Gottes, seine Fügungen, seine liebende Fürsorge sind in einem menschlichen Leben nicht offenkundig, sondern sie sind versteckt, wollen gesucht, als seine Stimme gehört und gefunden werden. Dass Gott nur in seinen Spuren wahrgenommen werden kann, ist Zeichen seiner unverfügbaren Gegenwart. Man kann sich ihm daher nur durch Erinnerung, durch Rückbesinnung annähern. Es bleibt lebenslange Aufgabe, bestimmte Ereignisse im eigenen Leben als Spuren Gottes deutend zu erkennen, will man seine Gegenwart erfahren. Im Psalm 77 heißt es daher: "Ich sinne nach über die Tage von einst, ich will denken an längst vergangene Jahre".