Manchmal müssen Traditionen auch aufgebrochen werden, damit etwas Neues wachsen kann. So z.B. am 9.11.1967, als Studenten vor in Talaren durch die Hamburger Universität schreitenden Professoren und Dozenten ein Transparent entrollten mit dem Titel: "Unter den Talaren Muff von 1.000 Jahren" – und damit die sogenannte 68er-Studenten-Revolte einläuteten. Gott sei Dank – so sagen wir heute – läuft der Studienbetrieb an unseren Hochschulen heute anders als vor 1968.
In meiner persönlichen Biographie nehme ich rückblickend sowohl wohltuende Traditionen als auch wohltuende Traditionsbrüche war. Ein 1965 von mir als ein großer Traditionsbruch empfundener war es, als die Gottesdienstsprache von Latein zu Deutsch wechselte. Ich war damals wütend, weil dies eine Woche vor unserer Messdiener-Aufnahmefeier geschah und wir alles neu lernen mussten. Heute kann ich darüber schmunzeln und bin heilfroh, dass es so gekommen ist.
Was Tradition bedeuten kann, habe ich besonders bei Taufen am über 600 Jahre alten Taufbecken in St. Severin gelernt. Das Beste aber, was mir an Tradition im Sinne von "Weitergabe" und "Übergabe" in meinem Leben passiert ist, verdanke ich meinen Eltern: Sie haben mir neben manchem anderen vor allem weitergegeben ein Grundvertrauen ins Leben – dafür bin ich ihnen bis heute dankbar.
Interessanterweise kennt die Bibel wohl inhaltlich, aber als Wort "Tradition" nicht; auch das Wort "überliefern" ist nur spärlich vertreten, wenn auch an prominenter Stelle. So im Buch der Psalmen (78,3.4.6.7): "Was wir hörten und erfuhren, was uns die Väter erzählten, das wollen wir ihren Kindern nicht verbergen, sondern dem kommenden Geschlecht erzählen: die ruhmreichen Taten des HERRN und seine Stärke … damit das kommende Geschlecht davon erfahre, die Kinder, die noch geboren werden; sie sollen aufstehen und es ihren Kindern erzählen, damit sie ihr Vertrauen auf Gott setzen, die Taten Gottes nicht vergessen."
Traditionen neu beleben hat viel zu tun mit einer Kultur gegen das Vergessen. Genau dies hat Jesus uns bei seinem Abschiedsmahl ans Herz gelegt: "Tut dies zu meinem Gedächtnis!"
Schließlich beginnt einer der wichtigsten Texte des Neuen Testamentes (weil die erste Erzählung von Ostern) mit den Worten: "Denn vor allem habe ich euch überliefert, was auch ich empfangen habe …" (1 Korinther 15,3)
Wir alle brauchen lebendige Traditionen zum Wohlfühlen und zur Orientierung.
Diese wünsche ich uns allen.
Pastor Johannes Quirl