Traditionen müssen passen

Was bedeuten Traditionen für junge Menschen? Mirjam W. (25) - in der Vergangenheit aktiv engagiert in der Gemeinde - absolviert zur Zeit ihr Berufspraktikum als Erzieherin in einem Naturkindergarten. Sie stellt sich den Fragen der Pfarrbriefredaktion: 

Claudia P.: Was kommt dir bei dem Begriff Tradition zuerst in den Sinn?

Mirjam W.: In unserer heutigen Gesellschaft ist so viel möglich, es gibt nicht mehr viele klare Orientierungen. Traditionen können Halt geben, sie können aber auch einengen. Meiner Meinung nach müssen sie darauf überprüft werden, ob sie noch passen, und sie dürfen auch aufgegeben werden, damit Dinge sich weiterentwickeln können. Dass das ein durchaus schwieriger Prozess sein kann, ist mir dabei bewusst.

Welche Traditionen empfindest du als bedeutsam?

Traditionen in der Familie, z.B. unser Familientreffen, das wir jedes Jahr um den Todestag meiner Großeltern veranstalten. Nach einem Gottesdienst zum Jahrgedächtnis treffen wir uns mit vielen Verwandten in einem Lokal zum Essen. Das ist teilweise anstrengend, aber es ist mir auch wichtig, dass wir uns gemeinsam an die Großeltern erinnern. Solche Erinnerungstreffen hat es auch schon zum Gedenken an die Urgroßeltern gegeben, sie haben also eine lange Tradition.

Unser Opa, mit dem ich unter einem Dach aufgewachsen bin, war überhaupt ein sehr traditioneller Mensch. Jeden Sonntag haben wir bei ihm gemeinsam gefrühstückt. Dann hatte er den Tisch besonders schön gedeckt und gab jedem von uns das Gefühl, ganz besonders willkommen zu sein. Die Art, wie er Traditionen lebte, wirkte auf mich immer besonders authentisch.

Die Tradition des gemeinsamen Frühstücks am Sonntag lebt bei uns fort. Genauso wie früher diskutieren wir hier über Dinge, die uns wichtig sind. Am Ende sitzen meist nur noch mein Vater und ich am Tisch. Auch wenn wir uns bei vielen Themen nicht einig sind, bereichert mich dieser regelmäßige Austausch immer. Das gilt, da bin ich sicher, auch für meinen Vater. Auch das Weihnachtsfest in der Familie ist durch Traditionen geprägt. Den Weihnachtsbaum gemeinsam schmücken, die Krippe aufstellen und Lieder singen, das darf nicht fehlen.

Lange gepflegte Tradition - das gemeinsame Sonntagsfrühstück in der Familie. (c) SilviaBins

Welche Rolle spielen für dich Traditionen in deinem Beruf?

Hier ist es mir schon wichtig, Traditionen weiterzugeben, zum Beispiel die Kinder in der Karnevalszeit mit dem traditionellen Liedgut vertraut zu machen. Unseren Kindergarten gibt es noch nicht lange, gewisse Orientierungen ergeben sich gerade erst. Das wurde bei unserer Sankt-Martin-Feier für mich recht deutlich. Es handelt sich nicht um einen konfessionellen Kindergarten, und ich fand es schade, dass die Figur Sankt Martin nicht in ihrer Tiefe deutlich wurde. Vielleicht hätte man besser ein anders gestaltetes herbstliches Fest feiern sollen, so war es nicht stimmig.

Wann bereiten dir Traditionen eher Unbehagen?

Wenn zum Beispiel in den Kölner Karnevalsgarden die einzige Frau unter Hunderten von Männern das Tanzmariechen ist. Wenn eine Frau selbstverständlich Bundeskanzlerin werden kann, aber Frauen in der Kirche immer noch nicht die gleichen Möglichkeiten haben wie die Männer. Normal wäre für mich, dass Frauen zum Priesteramt zugelassen werden.

Und Traditionen in der Liturgie?

Die Liturgie empfinde ich zum Teil als zu traditionell und festgelegt. Auch auf Weihrauch kann ich verzichten. Die Gläubigen sollten noch mehr einbezogen werden. Ich persönlich wünsche mir, dass gemeinsames zur Ruhe kommen, Taize-Gesänge im Gottesdienst eine größere Rolle spielt. Ich bin mir aber bewusst, dass Elemente des Gottesdienstes, die mir nicht so wichtig sind, anderen viel bedeuten. Für mich muss der "Kern" bestehen bleiben, auch wenn ich mir wünsche, dass Traditionen behutsam verändert werden können. Jeden Sonntag einen Gottesdienst zu besuchen, ist für mich nicht notwendig. Allerdings stelle ich fest, dass Glauben und Spiritualität, die für viele junge Menschen in meinem Alter geradezu Tabu-Themen sind, in mir fest verwurzelt sind.