Vergewisserung der Wurzeln

Christoph Schmitz: Seit über 50 Jahren sind Sie Priester und haben den Modernisierungsschub der Kirche in den sechziger Jahren in Ihren Verantwortungsbereichen mitgestaltet. Durch Papst Franziskus scheinen sich die Tore wieder weit zu öffnen. Ist es an der Zeit, konkret etwas zu verändern, etwa den Pflichtzölibat abzuschaffen und das Frauenpriestertum einzuführen

Josef Embgenbroich: Ja, eindeutig. Ich wüsste überhaupt nicht, warum Frauen nicht Priesterinnen werden sollten. Sich darauf zu berufen, dass die Apostel Männer waren, wäre zu kurz gesprungen und ist theologisch nicht nachvollziehbar. Warum soll eine Frau in Brasilien oder in Köln nicht Priesterin werde können? Auch zu der Frage, ob Priester und dann konsequenterweise auch Priesterinnen heiraten dürfen, antworte ich mit einem grundsätzlichen Ja. Das muss jedoch auf behutsame Weise eingeführt werden, damit meine ich nicht ausbremsen. Doch wir müssen sehen, dass Katholiken die Dinge unterschiedlich sehen und empfinden. Und da verheiratete Priester und das Frauenpriestertum ein revolutionäres Novum wären, käme es zu gewaltigen Verwerfungen, und die müssten zuvor sorgfältig bedacht werden im Sinne von Güterabwägung.

Aber das ist das Argument der Bremser, die sagen, dass es in der Weltkirche Regionen gibt, die von der Emanzipation der Frau so weit entfernt sind, wie die Gegenwart vom Mittelalter. So sollen Neuerungen von vornherein ausgeschlossen werden. Brauchen wir nicht eine mutige Avantgarde?

Ja! Aber wir müssen die Lebenswirklichkeit anerkennen. Hinsichtlich gesellschaftlicher und kirchlicher Entwicklungen gibt es unterschiedliche Geschwindigkeiten.

Christoph Schmitz im Gespräch mit Pfarrer Josef Embgenbroich (c) SilviaBins

Christoph Schmitz im Gespräch mit Pfarrer Josef Embgenbroich

Welche anderen Baustellen müssten dringend angegangen werden?

Der Abbau überdimensionaler bürokratischer Strukturen. Die Verwaltungsaufgaben ersticken die Seelsorge. Ein anderes Problem ist die immer geringer werdende Zahl der Priester, wobei es sicherlich einen Zusammenhang dieses Problems mit den vorher skizzierten gibt.

Darf ich Sie als einen Mann der Avantgarde bezeichnen, einer Avantgarde, die behutsam vorgehen möchte?

Ja, sicher!

In den Jahrzehnten des gesellschaftlichen Aufbruchs gab es die revolutionären Hitzköpfe, die das Kind mit dem Bade ausgeschüttet hätten. Besteht die Gefahr nicht auch heute wieder?

Einen echten Eifer gab es in der Kirche damals schon, aber immer mit einer gewissen Sensibilität verbunden. Ein positives Beispiel ist die Taizé-Bewegung. Wenn es heute eine Bedrohung für die Kirche gibt, dann kommt die ganz woanders her: In weiten Teilen der Gesellschaft interessiert sich niemand mehr für die Kirche und für ihre Zukunft. Und das betrifft nicht nur die Kirche, sondern die christliche Gläubigkeit überhaupt.

Was heißt das für das Verhältnis von Tradition und Innovation?

Wir müssen uns der zentralen Frage stellen: Bewegen wir uns in den Fußspuren Jesu? Bei allen Unterschieden zwischen unserer Lebenswirklichkeit heute und der vor 2000 Jahren, bei allen kulturellen und gesellschaftlichen Differenzen in der gegenwärtigen Welt ist dies die entscheidende Frage: Lebe ich authentisch als Christ? Ich kann den Herrn Jesus Christ nicht eins zu eins nachahmen, aber wir wissen um seine Haltung, und wenn wir uns an ihr messen und uns immer wieder bemühen, ihr gerecht zu werden, dann sind wir in dieser Spur. Dazu gehört auch, in gesellschaftlichen Belangen auf die Straße zu gehen und die Stimme zu erheben. Wir werden als Christen an unseren Taten gemessen.

Zugleich hat die Christenheit über zwei Jahrtausende eine eigene religiöse Sprache entwickelt etwa in Form von Riten, Liturgien und Architekturen, die heute zum Teil nicht mehr verstanden werden. Müssten wir neben einem authentischen christlichen Leben nicht auch versuchen, unsere religiöse Sprache wieder verständlich zu machen?

Ja, wir müssen unsere Sprache "übersetzen". Allerdings würde ich auch hier ein Vorsichts-Signal einbauen. Denn unsere Liturgie pflegt ja eine bestimmte Form der Feierlichkeit. Was das gesprochene Wort angeht, muss der Gottesdienst verständlich sein. Aber er muss auch Glanz und Gloria haben.

Sie erkennen also den Eigenwert der Tradition an als einen Symbolkosmos, den man heute anbieten kann?

Sicherlich. Denn Tradition hat nicht immer was mit Rückständigkeit zu tun, sondern mit der Selbstvergewisserung unserer Wurzeln.

Tradition und Innovation gibt es für Sie nur im Paket?

Richtig. Nur Rennen geht nicht. Auch Innehalten brauchen wir. Das ist die Spannung, in der wir leben.