Ohne Musik kein Trost

– davon ist Barbara K. überzeugt und lässt an ihren persönlichen Erfahrungen teilhaben. 

Als ich gefragt wurde, ob Trost finden für mich etwas mit Musik zu tun hätte, habe ich mich gefragt, wie ich ohne Musik Trost finden könnte. Ich erinnere mich an einige sehr trostbedürftige Zeiten in meinem Leben und erzähle, welche Rolle die Musik gespielt hat.

Im Kindergarten war ich zutiefst einsam. Es war das Lebensalter, in dem meine Mutter vierjährig aus ihrer oberschlesischen Heimat flüchtete und Diphterie bekam, und in der mein Vater auf seine Mutter aufpasste, weil sein Vater Soldat und weg war. Meine Eltern haben gelernt, diese Zeit nicht schlimm zu fühlen. Ich hingegen war weder auf der Flucht, noch musste ich schlimme Angst um abwesende Elternteile haben. Ich musste weder Hunger noch Durst erleiden, stattdessen hatte ich ein schönes und gutes Elternhaus. Meine Not verstand weder ich noch sonst jemand. Meine Einsamkeit fand kein Gehör. Trost und stellvertretenden Ausdruck fand ich beim Hören von "Piccolo, Sax und Co", einer Langspielplatte, die ich mir sehr, sehr oft angehört habe. Das kleinste Instrument aus der Familie der Holzblasinstrumente zieht in die Welt, weil es der festen Überzeugung ist, es müsse noch andere Instrumente geben, die es lohnt kennenzulernen. Mit hörbarer Freude und großer Neugier macht es sich auf, und tatsächlich, es trifft strahlende Trompeten, den warmen Klang eines Cellos ("Familie der Geigen"), die geheimnisvolle Gitarre in einer Mondnacht, es hört sich unglaublich schön an, wenn sich diese Instrumentenfamilien einander vorstellen und eine gemeinsame Musik entstehen lassen. Tröstlich, wie die individuelle Klangfarbe mit den anderen Farben verschmilzt und etwas Gemeinsames entsteht.

Die Pubertät hörte und hörte nicht auf. Wie auch, wenn es einerseits darum geht, den Erwartungen zu entsprechen, andererseits die eigenen Erwartungen an Freundschaft, Dazugehören und Verständnis ständig enttäuscht werden. Das Kindergartengefühl, fremd zu sein und nicht dazuzugehören, war nicht weg, sondern nur anders schmerzhaft. Entsprechend meinem Vorbild „Piccolo“ war ich als Flötistin im Musikschulorchester angekommen. Musizieren mit anderen, eine heilsame Erfahrung. Musik, eine Sprache der Verständigung. Eine Stunde Üben am Tag in meinem Zimmer, das ich endlich nicht mehr mit meinem Bruder, sondern nur noch mit dem Kleiderschrank meines Opas teilen musste. Eine Stunde, das war die Stunde, in der der Kopf frei war. Die Zwerchfellatmung und das Verwandeln von Luft in Klang haben etwas sehr Tröstliches, die tiefe Atmung erdet und lässt sich gut als Seufzer gestalten. "Aus der Tiefe rufe ich zu dir …" – "Hört ihr mich, wie ich mit der E-Moll-Sonate um einen Platz im Himmel kämpfe?" Johann Sebastian Bach hat mich sehr getröstet, aber auch allein gelassen. Das ist kein Musikgeschmack, der sich unter Freund*innen teilen lässt. "Allein, wir sind allein. Die Kreuzwege des Lebens geh'n wir immer ganz allein" (Reinhard Mey).

Besonders leidvoll war die eigentlich doch schöne Erfahrung, eine nicht für möglich gehaltene Dimension von Liebe mit einer Frau zu erleben. Mein Freund und ich hatten es als Hetero-Paar schon weit gebracht, dachte ich. Aber Liebe ist nicht nur denken. "Halt mich, bis ich schlafen kann" (Herbert Grönemeyer), "Das ist derselbe Mond wie über Berlin" (Klaus Hoffmann), "Ich hab ein zärtliches Gefühl" (Herman van Veen). Ich habe den Traum einer gemeinsamen Liebe mit meiner damaligen "besten Freundin" (die heute immer noch eine wunderbare beste Freundin ist) in sehnsuchtsvolle Musik verlagert. Verständnis finden – wenigstens in den Songs. Hören und Fühlen in Dauerschleife. Es war ein steiniger Weg, aber seit nunmehr 23 Jahren habe ich einen Platz im Himmel auf Erden an der Seite meiner Frau gefunden. "Hallelujah" von Leonard Cohen ist vielleicht nicht der klassische Hochzeitswalzer, aber meine Frau und ich fühlen ihn im Gleichklang. Tiefer Trost nach langen Durststrecken.

Mit der Flöte habe ich das, was in mir zum Klingen gebracht werden möchte, nicht so recht ausdrücken können. Das Saxofon hat den Blues in sich und deswegen brauche ich es. Ich habe eine bestimmte Klangvorstellung als Ziel in meinem Ohr. Ich habe dieses Ziel noch nicht erreicht, aber es fühlt sich gut an, das Ziel bei Profimusiker*innen zu hören  
und auf dem Weg zu sein. 

Welche Musik mir Trost spendet? Abgrundtiefe Traurigkeit in Musik zu verwandeln, die sprachlos macht, weil dem nichts hinzuzufügen ist, empfinde ich als großen Trost. Die Trauer nicht wegreden oder umdeuten, sondern ausdrücken. Wenn Chet Baker, bereits sehr gezeichnet vom Leben, "My Funny Valentine" spielt, fühle ich ein tiefes "So ist es." Jazz ist ein Ausdruck, eine Sprache, die ich gerne können würde. Das Eigene so ausdrücken und in die Gemeinschaft mit anderen bringen, dass ein Solo daraus wird – und nicht nur Gedudel. Das ist ein Ziel, das ich in meiner Zeit als Krebs-Patientin mit ins Gebet genommen habe: "Lass es heut noch nicht geschehen, denn ich bin doch noch nicht so weit" (Reinhard Mey).

Das gemeinsame Musizieren mit meinen Bandkolleginnen und -kollegen der Jazzhaus-schule ist meine Kraftquelle im Alltag und ein tröstliches Highlight jeder Woche. Mein traurigster Corona-Tag war, als ich realisiert habe, dass das jetzt über Wochen und Monate 
aufhören wird. Meine Saxofon-Lehrerin durfte ich – unter Wahrung aller Auflagen – trotzdem ein paar Mal treffen, sodass ich mich mit inspirierenden Tipps und privatem Üben über die stille Zeit hinwegtrösten konnte. Licht am Ende des Tunnels? Musik am Ende der Stille!

 

'Ich brauche das Saxofon', sagt Barbara K. (c) SilviaBins

'Ich brauche das Saxofon', sagt Barbara K.