Unsere Sprache ist mitunter wie ein archäologisches Trümmerfeld. Einzelne Wörter ragen als Reste einer untergegangenen Siedlung aus dem Boden der Vergangenheit. Manchmal sehen wir sofort, was dies und jenes einmal war: die Mauer eines Wohnhauses, der Rand eines Brunnens, die Säule eines Tempels. Manchmal können wir allerdings gar keine Rückschlüsse auf den einstigen Zweck ziehen. Manchmal ahnen wir nur die ursprüngliche Bedeutung und gebrauchen die Wörter dennoch, obwohl sie uns etwas seltsam vorkommen.
Wir gehen in die "Mette", auf "Wallfahrt", feiern eine "Vermählung" und die "Karwoche". Dass dieses "Kar" in "Karwoche" und in "Karfreitag" aus dem althochdeutschen "Kara" stammt, was Klage bedeutet, musste ich noch einmal nachschlagen. Auch dass das "Grün" des "Gründonnerstags" auf das ebenfalls althochdeutsche "grinan" zurückgeht und "weinen" heißt.
Besonders irritierend sind Wörter wie "Fronleichnam" und "Leichenschmaus". An beidem haben wir vermutlich schon teilgenommen und sind doch weder Leichenfledderer noch Aasfresser in finsteren Ritualen. Denn die mittelalterliche "vron" ist die persönliche Dienstleistung eines Bauern für den Grundherrn. Und der "licham" oder die "liche" ist die menschliche Gestalt, der menschliche Körper, der lebendige Leib. So bewundert der Titelheld in Gottfried von Straßburgs mittelalterlichem Versroman "Tristan", wie sich das Kleid der geliebten Isolde an ihren Körper schmiegt: "der roc . . . tete sich nahe zuo der liche". Und so feiern wir an Fronleichnam nichts anderes als den lebendigen Leib von Jesus Christus.
Natürlich hat sich der Sinn des Wortes Leichnam mit der Zeit tatsächlich hin zu dem des toten Körpers entwickelt. In einem ersten Schritt sprachen unsere Vorfahren allerdings noch von einer "todten leiche", wie der Nürnberger Schuster und Dichter Hans Sachs.
Heute ist die Leiche richtig tot. Aus und vorbei. Aber: Wenn man sich die Entwicklung des Wortes vergegenwärtigt und wir zugleich ja nach wie vor an Fronleichnam den lebendigen Leib des Herrn feiern, schwingt dann rund um das Wortfeld Leiche, wie etwa beim "Leichenschmaus", nicht doch noch etwas von jenem Pulsieren des einst lebenden Körpers mit?
Somit auch ein Hauch der Hoffnung, die uns der Glaube vermittelt, dass nämlich unser Leben auch im Tod in der Liebe des Schöpfers gut aufgehoben ist und wir weiter da sind, auf welche Weise auch immer? Nun, darüber werden die Meinungen und Erfahrungen auseinander gehen.
Aber eines steht fest: Der Leichenschmaus ist eine geniale Einrichtung!
Schon dieses Wort "schmausen" ist ein Genuss und lockt uns mitten ins Leben, auch die Klänge seiner Vorläufer und Verwandten; das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: "smusen", "schmaussen", "smullen", "smuisten", "smudderen". Das Wasser läuft einem im Munde zusammen. Und so wohltuend, erfrischend, erleichternd ist der Leichenschmaus nach Schock, Trauer, Aufregung und Organisationswust durch den hereingebrochenen Tod. Ich habe das immer so erlebt, nach den Beerdigungen meiner Großeltern, Onkel, Tanten und früh verstorbener Freunde, sogar nach dem frühen Tod meines lieben Bruders Benedikt, der nur 36 Jahre alt werden durfte.
Wie hatte es während der Beerdigung geregnet! Der Eifelhimmel war schwarz gewesen an jenem Sommertag. Im Gemeindesaal des Dorfes waren alle zusammengekommen, klitschnass bis auf die Haut, zerstörte Frisuren, aufgeweichte Sohlen, zitternde Kinder. Im Saal war es warm. Wir hockten uns eng auf den Bänken zusammen. Freundliche Blicke wanderten hin und her. Schulterklopfen. Umarmungen. Dann der Streusel- und Käsekuchen und die Käse- und Schinkenbrötchen samt sauren Gürkchen zu starkem Kaffee und später noch ein Schnaps oder zwei.
Das Leben geht weiter. Für die Lebenden und die Toten. Der Leichenschmaus hilft, jedenfalls für den Tag und für den Übergang in die Normalität eines Lebens ohne den zu Grabe getragenen Menschen. Der Leichenschmaus macht uns wieder etwas lebendiger.
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Christoph Schmitz