In Ausnahmesituationen kann man immer nur das Notwendigste tun – diese Erfahrung machte Stefanie M. bei der Fürsorge für ihre Mutter.
Alle Kinder werden irgendwann erwachsen und verlassen das Elternhaus. Das ist ganz normal, keineswegs dramatisch, dachte ich mir, als es bei zwei meiner Töchter soweit war. Nachdem ich trotz aller Normalität in der ersten Zeit nach ihrem Auszug oft sehr traurig war, habe ich doch relativ schnell gemerkt, dass das für mich auch viele gute Seiten hatte: Ich hatte mehr Zeit für unsere Jüngste, damals 11 Jahre alt, und für meine beruflichen Interessen. Und ich merkte auch schnell, dass es nicht bedeutet, wenn meine Kinder das Elternhaus verlassen, nehme ich nicht mehr an ihrem Leben teil. Im Gegenteil: Unsere Beziehung wurde entspannter und in gewisser Weise auch intensiver. Die tägliche Nähe und damit der alltägliche Kleinkram, die unterschiedlichen Auffassungen zu Haushaltsthemen und deren Umsetzung, der unterschiedliche Lebensrhythmus - all das spielte keine Rolle mehr. Treffen mit den erwachsenen Kindern wurden zu Verabredungen, die ich uneingeschränkt genießen konnte und kann. Nicht zuletzt hatte ich plötzlich ungewohnt viel Zeit für mich selbst. Das habe ich sehr genossen und schnell verinnerlicht.
Umso schwerer ist es mir gefallen, die Verantwortung für meine Mutter zu übernehmen, als sie ernsthaft krank wurde. Das ist auch ganz normal, keineswegs dramatisch, das ist der Lauf der Dinge. Aber in der Praxis hat mir das wenig geholfen. Dabei war ich in der Situation nicht alleine. Meine Eltern leben auf dem Land etwa 100 Kilometer weit weg. Mein Vater war immer da, und auch die Schwestern meiner Mutter haben täglich geholfen. So konnte meine Mutter trotz ihrer schweren Krankheit zu Hause bleiben.
Ich bin jede Woche für zwei Tage zu meinen Eltern gefahren und habe vieles organisiert und versucht, zu helfen. Meine Mutter wollte bis zum Schluss, dass alles so weiterlaufen sollte wie vor ihrer Krankheit. Sie selbst konnte das aber nicht mehr leisten. Also bestand meine Aufgabe vor allem darin, den Haushalt meiner Eltern einigermaßen in Ordnung zu halten. Für Arztbesuche war ich genauso zuständig wie für kleine Feste zum Geburtstag oder Namenstag und jedes Mal, wenn ich kam, gab es in unseren Köpfen schon eine lange Liste mit Dingen, die einzukaufen oder zu erledigen waren. Das war zu schaffen, aber was oft fehlte, war die Zeit einfach mit meiner Mutter zusammenzusitzen, zu erzählen und zu trösten. In einer solchen Extremsituation kommen natürlich unweigerlich auch alte Familienthemen wieder an die Oberfläche. Es war sehr schade, dass wir so wenig Zeit hatten, darüber zu sprechen. Vieles war der Normalität untergeordnet. Aber diese Normalität war andererseits sehr wichtig für meine Mutter.
Einmal während ihrer Krankheit musste mein Vater für einige Tage ins Krankenhaus, und meine Mutter verbrachte diese Zeit in der Kurzzeitpflege. Dort besuchte ich sie zweimal, und diese Besuche sind mir heute in sehr schöner Erinnerung: Wir saßen einfach den ganzen Nachmittag zusammen und haben geredet, gelacht und geweint. Wir sind uns viel näher gekommen in diesen Stunden. Mein ganzes Leben lang hatte ich ein sehr enges Verhältnis zu meiner Mutter. Im Pflegealltag blieb für diese Nähe nicht genügend Zeit, dazu kam bei mir auch das Gefühl der Zerrissenheit zwischen meiner eigenen Familie zu Hause, wo ja auch noch meine jüngste Tochter zu begleiten war, und der Notwendigkeit, meinen Eltern zu helfen. Ich fühlte mich oft schuldig, ich konnte niemandem gerecht werden, am wenigsten mir selbst.
Die letzte Woche ihres Lebens hat meine Mutter im Krankenhaus verbracht. Wir haben abwechselnd an ihrem Bett gesessen. Das war natürlich eine schwere Zeit, aber ich habe sie auch genossen: Ich konnte einfach bei ihr sein.
Heute, drei Jahre nach ihrem Tod, denke ich gerne an die letzte Zeit mit meiner Mutter zurück. Ich bin auch milder geworden in meinem Urteil über meine Rolle als Pflegende. Im Gegensatz zu damals denke ich heute, dass wir alle, die wir uns um meine Mutter gekümmert haben, das so gut gemacht haben, wie wir konnten. Krankheit und Alter mögen normale Entwicklungen sein, aber die Angehörigen erleben diese Zeit als Ausnahmesituation. Und in Ausnahmesituationen kann man immer nur das Notwendigste tun.