In der Reihe "Im Gespräch über Gott und die Welt – Glaubensgespräche für Menschen 60 plus" wurde kürzlich diese Frage engagiert diskutiert. Eingeladen dazu war Raymund Weber, Texter einer großen Zahl religiöser Lieder, einige davon finden sich im neuen Gotteslob. Zur Wiedereröffnung der Severinskirche schrieb er ein neues Severinuslied. Die Pfarrbriefredaktion im Gespräch mit dem Diplom-Theologen:
Wie kamen Sie zu diesem Thema?
Es beschäftigt mich schon seit meiner frühen Jugend. Ich singe gern, vor allem im Gottesdienst. Aber bei manchen Texten, vor allem in älteren Liedern, drängte sich mir die Frage auf, ob ich die vorgegebenen Worte ernsthaft mitsingen kann. In einer früheren, heute entfallenen Strophe des Marienliedes "Wunderschön prächtige" z.B. hieß es: "Alles, was immer ich hab und ich bin, geb ich mit Freuden Maria dir hin." Da habe ich schon als Fünfzehnjähriger geschwiegen.
Und heute?
Es gibt ein grundsätzliches Problem. Was viele Menschen für ein Lied einnimmt, sind vor allem die schöne Melodie, ein mitreißender Rhythmus oder eine reizvolle Harmonie. Der Text wird oft weniger beachtet, manchmal sogar einfach in Kauf genommen.
Ist es nicht wichtiger, dass die Menschen überhaupt singen?
Könnte man sagen, wenn es nicht so problematisch, ja sogar gefährlich wäre. Einige Liedtexte mit schönen Melodien aus dem 17. Jh. sind geeignet, ein schiefes Gottesbild und problematische Aspekte des christlichen Glaubens zu vermitteln. Zum Beispiel steht in den beiden bekannten Liedern (im Gotteslob Nr. 289 und Nr. 290) "O Haupt voll Blut und Wunden" und "Herzliebster Jesu" der Satz: "Ich, mein Herr Jesus, habe dies verschuldet, was du erduldet." Das ist so, als würde durch mein Fehlverhalten die Dornenkrone tiefer in den Kopf Jesu gedrückt. Und das kann, vor allem bei tief Gläubigen, einen dauerhaften Schuldkomplex verursachen. Denn trotz der Dominanz der Musik bleibt vom Text immer auch etwas hängen.
Können Sie auch positive Beispiele nennen?
Ja, sicher. Da müssen wir bei Martin Luther anfangen. Er hat das Kirchenlied in deutscher Sprache begründet. Nach seinem Motto "Wenn sie’s nicht singen, dann glauben sie’s nicht" hat er Texte und Melodien geschrieben, um den Glauben in die Herzen der Menschen einzusenken. Er hat dabei "seine" Themen, den Glauben des Einzelnen und die ohne Vorleistung geschenkte Gnade Gottes betont. In der Gegenreformation wurden die "katholischen Themen", die Vermittlerrolle der Kirche und die Bedeutung der Sakramente herausgestellt. Durch die Fülle der vielgesungenen Lieder wurden die Richtungen der beiden christlichen Konfessionen über Jahrhunderte geprägt.
Und wie sieht es heute aus?
Besser denn je. Viele der "alten" Lieder können auch heute noch guten Gewissens gesungen werden. Wir haben damit ja einen Schatz gelebten und bezeugten Glaubens, aber eben aus der Gottessehnsucht der Barockzeit und der gefühlvollen Gottseligkeit des 19. Jh. Einen großen Umschwung und eine enorme Bereicherung des Lied-repertoires gab es Mitte des vergangenen Jahrhunderts. Angestoßen durch das II. Vatikanische Konzil (1962 – 65) brachen sich neu formulierte Glaubensinhalte in neuem musikalischem Gewand Bahn.
Themen, die bisher keine Rolle gespielt hatten, wurden in poetischer, bildhafter, heutiger Sprache ausgedrückt: Friede und Gerechtigkeit, Verantwortung für die Schöpfung, der Einsatz für Arme und Unterdrückte. Texter und Musiker betonten in ihren Liedern den menschenfreundlichen Gott, seine Liebe und Barmherzigkeit, wie ihn Jesus verkündet hat. Glaube nicht mehr als Unterwerfung unter einen streng urteilenden Gott, sondern als Annahme des Evangeliums, der froh machenden Botschaft vom Reich Gottes (schon hier auf Erden).