Erst nach der Shoah, die mehr als sechs Millionen Juden das Leben kostete, begann ein Umdenkensprozess. Vor der Tatsache, dass Christen die Mörder gewesen waren, und dass kaum ein Christ seine Hand für die Juden gerührt hatte, wurde sich die Theologie neu bewusst, dass der christliche Glaube nach Paulus nur ein aufgepfropfter Zweig auf dem jüdischen Ölbaum ist, dass christlicher Glaube ohne die jüdische Bibel nicht verstanden werden kann, dass Jesus Jude war und nichts anderes sein wollte.
Diese andere Sicht schlug sich in der Neuformulierung der Karfreitagsbitte von 1971/1974 nieder: "Lasst uns auch beten für die Juden, zu denen Gott, unser Herr, zuerst gesprochen hat: Er bewahre sie in der Treue zu seinem Bund und in der Liebe zu seinem Namen, damit sie das Ziel erreichen, zu dem sein Ratschluss sie führen will". Es folgt jetzt auch hier eine Kniebeuge, an der sich das Gebet anschließt: "Allmächtiger, ewiger Gott, du hast Abraham und seinen Kindern deine Verheißung gegeben. Erhöre das Gebet deiner Kirche für das Volk, das du als erstes zu deinem Eigentum erwählt hast: Gib, dass es zur Fülle der Erlösung gelangt. Darum bitten wir durch Christus, unseren Herrn. Amen".
Wie sehr aber Teile der Kirche weiterhin der alten Sicht verhaftet geblieben sind, zeigt die Neufassung der Karfreitagsbitte im Gottesdienst nach tridentinischem Ritus von 2008. Die Übersetzung des lateinischen Textes lautet: "Lasst uns auch beten für die Juden, auf dass Gott, unser Herr, ihre Herzen erleuchte, damit sie Jesus Christus erkennen, den Retter aller Menschen".
Die Geschichte zeigt bis in die jüngste Gegenwart hinein, dass nicht die Synagoge, sondern die Kirche viele Jahrhunderte dem Judentum gegenüber blind war. Es ist an der Zeit, unsere Augenbinde abzunehmen und endgültig das zu sehen, was Franz Rosenzweig (jüdischer Religionsphilosoph) so trefflich formuliert hat: "Was Christus und seine Kirche in der Welt bedeuten, darüber sind wir einig: es kommt niemand zum Vater denn durch ihn. Es kommt niemand zum Vater - anders aber wenn einer nicht mehr zum Vater zu kommen braucht, weil er schon bei ihm ist. Und dies ist nun der Fall des Volkes Israel".
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Barthel Schröder