Eine Chance für Andrej

Olga, ihr Mann Juri und Andrej wohnen seit Mai dieses Jahres in einer Wohnung der Pfarrgemeinde. Ihr jetzt 10-jähriger behinderter Sohn kann weder laufen noch sprechen, wird im Rollstuhl gefahren und wird bei Terminen außer Hause die Treppen herunter und herauf getragen.
Olga ist eine russisch-sprachige Ukrainerin, das Gespräch mit Ingrid Rasch von der Pfarrbriefredaktion ist möglich gemeinsam mit Ulrike, die russisch spricht; sie hat die Verbindung zur Familie hergestellt, die sie zunächst nach der Flucht in ihrer Wohnung aufgenommen hatte. Juri nimmt zum Zeitpunkt unseres Gesprächs einen Termin für Andrej beim Kinderarzt wahr.

"Nicht frühstücken vor unserem Treffen" – diese Nachricht kommt am Tag vor dem vereinbarten Gesprächstermin. Nachdem ich die drei Etagen des schmalen Treppenhauses hochgestiegen und Olga Sakhen und ihren Sohn Andrej begrüßt habe, fällt der Blick auf einen üppig gedeckten Tisch mit liebevoll zubereiteten Speisen, die aber bis zum Ende unseres Gespräches warten müssen. Es wird gelacht und geweint, Andrej ist immer dabei und schaltet sich hier und da auf seine Weise – mit Bewegungen und Tönen – ein.

Zuversicht – genau dieses Wort gibt es im Russischen nicht – so etwas wie Optimismus könnte dem entsprechen. Olga vertraut darauf, dass die Dinge im Leben sich zum Besseren wenden; sie glaubt an Gottes Beistand. Durch den furchtbaren Krieg habe sie viel verloren und gleichzeitig hier in Deutschland zum ersten Mal gehört, dass Andrej laufen lernen kann.

Gastfreundliche Bewirtung ist selbstverständlich. (c) SilviaBins

In ihrer Heimat (Kiew) hat sie als Mutter eines behinderten Kindes viel Abwertung erfahren, man gehe ganz selbstverständlich davon aus, dass die Behinderung durch Alkohol- oder Drogenmissbrauch in der Schwangerschaft ausgelöst wurde. Das hat sie als generelle Haltung erlebt. In der Öffentlichkeit seien behinderte Menschen gar nicht präsent. Zudem gebe es im Land nirgendwo Barrierefreiheit. Mit leuchtenden Augen spricht sie davon, dass ihr Kind hier persönlich angesprochen wird, freundlich angeschaut, als Person wahrgenommen und ernstgenommen wird. "Es gibt sogar Post mit seinem Namen auf dem Kuvert!"

Als sie in Kiew aufbrachen nach den ersten Bombardements zu Beginn des Krieges glaubten sie, in zwei Tagen wieder zu Hause zu sein; aber dann bewegten sie sich in Etappen immer nach Westen – flohen an jedem neuen Ort vor den Bomben; für 300 Kilometer brauchten sie 18 Stunden, immer in Sorge um Andrejs lebensbedrohlich labilen Gesundheitszustand bei fehlender medizinischer Versorgung.

Zuversichtlich waren sie, aufgrund von Andrejs Erkrankung gemeinsam über die Grenze zu kommen, dennoch verunsichert. Tagelang warteten Menschen an manchen Grenzorten auf den Übertritt; sie hatten Glück mit fünf Stunden, aber Juri wurde die Ausreise verwehrt. Sie habe unstillbar geweint, beschreibt Olga die Situation und weint auch jetzt; eine Grenzbeamtin habe nach unendlich langen 15 Minuten wortlos die Durchfahrt erlaubt. Olga wäre ohne Juri nicht gefahren. Gegenseitig hätten sie sich unterstützt in diesen Zeiten extremer Belastung. Juri habe immer Zuversicht ausgestrahlt, „alles wird gut“, aber Olga ist sicher, dass auch er sehr gelitten hat unter der Unsicherheit und der Gefahr.

In ihrer Wohnung in Kiew leben jetzt andere Menschen, deren Zuhause zerstört ist.

Nach dem Blick in die Vergangenheit geht es im Gespräch auch um die aktuelle und zukünftige Situation der Familie. "Die Ukraine ist das beste Land auf der Welt, aber für Menschen mit Behinderung ist es nicht nur traurig, sondern ganz schrecklich, für Andrej ist es hier millionenmal besser." Der anstehende Schulbesuch (Förderschule) ihres Sohnes löst bei der Mutter sehr ambivalente Gefühle aus. Im Kopf sei es ihr klar, wie nötig und wichtig der Schulbesuch für ihn ist, aber Andrej ist bisher nie mehr als zwei Stunden von ihr getrennt gewesen. Fördermaßnahmen wie hier gebe es in der Ukraine nicht, von daher habe sie eigentlich vor dem Krieg schon gewusst, dass die Familie seinetwegen nicht dauerhaft in der Ukraine würde bleiben können.

Besonderen Eindruck hat die Aussage eines Physiotherapeuten gemacht: Die Schule werde Andrej Gelegenheit geben, sich von der Mutter zu erholen, und er könne viele neue und wichtige Erfahrungen machen. Nicht zuletzt wird sein Schulbesuch der Mutter Zeit geben, Deutsch zu lernen. Das sei nötig, meint sie lachend, damit sie Andrej versteht, der vielleicht schneller Deutsch lernt als sie; sie glaubt fest daran, dass er sprechen lernen wird und auch stehen, vielleicht gehen.

Olgas eigene Sehnsucht nach ihrem Zuhause, das sie zurücklassen musste, wird ein wenig gemildert durch den Kontakt zu ihrer Schwester, die in Mönchengladbach wohnt. Sie selbst ist dankbar, dass die Pfarrgemeinde die jetzige Wohnung zur Verfügung gestellt hat, dennoch ist der Wunsch nach einer barrierefreien Alternative groß.

Unser Gespräch endet mit einer herzlichen Umarmung und der Versicherung, sich bald wieder zu treffen, vielleicht zu einem üppigen Abendessen …     

B19A1667 (c) SilviaBins